Der Hexer und die Henkerstochter
überlegte kurz, dann fuhr er fort: »Vermutlich sind das hier vergessene Fluchtwege der alten Andechser Burg.« Er deutete auf einen Menschenschädel mit einer Kerbe in der Stirn, der sie von einem Schutthaufen aus böse angrinste. »Jetzt wissen wir zumindest, wie die Burg am Ende eingenommen wurde. Irgendjemand hat den Angreifern den Fluchttunnel verraten. Bei so vielen Knochen, wie hier herumliegen, war’s bestimmt ein gottgefälliges Gemetzel.« Der Henker hielt die Fackel hoch und leuchtete abwechselnd in den linken und in den rechten Gang. »Der Hexer nutzt diese Fluchttunnel wohl als Versteck«, murmelte er. »Für was auch immer. Nun ist jedenfalls klar, warum man den unglücklichen Laurentius mit der Monstranz im Wald gefunden hat. Der Hexer hatte ihn hierher verschleppt, aber der Pater konnte fliehen. Wenigstens ein Stück weit.« Kuisl spuckte verächtlich aus. »Wenn dein Mann nicht eingeschlafen wär, hätt der Mönch vielleicht noch mal sein Maul aufgemacht, und wir hätten schon viel früher gewusst, wo wir suchen müssen!«
»Dein Geschimpfe bringt uns jetzt auch nicht weiter«, erwiderte Magdalena gereizt. »Sag mir lieber, welchen Gang wir nehmen sollen.«
Ihr Vater runzelte die Stirn. »Wir nehmen den rechten«, sagte er schließlich. »Den mit dem modrigen Geruch. Der scheint tiefer in den Berg zu führen, außerdem geht er direkt aufs Kloster zu.«
»Erzähl bloß, du kannst hier unten sagen, wo welche Himmelsrichtung ist?«, fragte Magdalena verblüfft.
Der Henker tippte sich grinsend an seine lange hakenförmige Nase. »Die hier sagt mir immer, wo ich langgehen muss. Ich bin wie ein alter blinder Hund. Der findet auch stets nach Haus zurück.«
Ohne ein weiteres Wort betrat Jakob Kuisl den rechten Gang, und Magdalena folgte ihm achselzuckend. Die Henkerstochter hatte es aufgegeben, ihren Vater durchschauen zu wollen. Meist hatte sie am Ende widerwillig zugeben müssen, dass er mit seinen Marotten recht behalten hatte.
Je weiter sie kamen, desto stärker wurde der modrige Geruch. Mittlerweile glaubte Magdalena zu wissen, wonach es roch: ein alter, nicht geleerter Nachttopf, der lange unter dem Bett gestanden hatte. Jetzt war der Gestank so stark, dass er ihr förmlich in der Kehle brannte.
Naserümpfend eilte sie ihrem Vater nach. Waren sie etwa in der Nähe einer großen Kloake? Unwillkürlich sah sie hinauf zur Decke, als könnte sie jeden Moment eine Ladung Unrat treffen. Der Henker ging derweil entschlos sen weiter. Magdalena glaubte, ihn im Dunkeln einige Male grimmig nicken zu sehen.
»Der Eingang zur Hölle«, knurrte Kuisl. »Die Alte aus dem Kiental hat schon recht gehabt. Stinken tut’s, als tät gleich der Satan um die nächste Ecke biegen. Nun, wenigstens glaub ich, dass wir bald das erste der vielen Rätsel lösen werden.«
»Was meinst du mit …«, begann Magdalena, als vor ihr plötzlich ein schwaches Leuchten zu sehen war. Es war nicht mehr als ein leichtes Schimmern, das auf der linken Seite aus der Wand kam. In der Finsternis waberte es wie eine giftige Wolke.
»Mein Gott, was ist das?«, hauchte Magdalena.
»Das?« Der Henker grinste. »Das ist eines unserer Rätsel. Auch wenn es bis zum Himmel stinkt.«
Er ging auf das Leuchten zu und schien plötzlich darin zu verschwinden.
»Vater!«, rief Magdalena entsetzt. »Wo bist du?«
Mit klopfendem Herzen rannte sie Jakob Kuisl hinterher und erkannte, dass der Schimmer aus einem Durchgang kam. Als sie durch den niedrigen Torbogen trat, starrte sie in einen kreisrunden, brunnenförmigen Raum, der grünlich zu leuchten schien. Erst auf den zweiten Blick erkannte Magdalena, dass es nicht der Raum war, der leuchtete, sondern lediglich einige Gegenstände darin. Zur Linken stand ein grober hölzerner Tisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch lag, daneben befanden sich einige Schüsseln, Destillierkolben und Tiegel, die alle jenen seltsamen Glanz ausstrahlten. Weitere Bücher mit schweren Ledereinbänden lehnten dort. Überall auf dem Tisch waren zudem kleine Krümel verstreut, die ebenfalls zu leuchten schienen.
Das stärkste Licht ging jedoch von der gegenüberliegenden Seite des Raumes aus, wo ein mannshoher Haufen Schutt gespenstisch glimmte, so als kröchen Hunderte von Glühwürmchen über ihn. Der Gestank in dem Raum war so beißend, dass Magdalena kurz würgen musste.
»Prost Mahlzeit!«, brummte Kuisl. »Wir haben das Scheißhaus der alten Burg gefunden.«
Magdalena war von dem Glimmen so gebannt, dass sie
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