Der Hexer und die Henkerstochter
Leopold von Wartenberg Haltung zu bewahren, er ging zügig, aber er rannte nicht. Endlich unter dem Torbogen angekommen, musterte er den Henker argwöhnisch, so als wüsste er noch nicht, wie er mit ihm verfahren sollte.
»Ich habe mich soeben selbst davon überzeugt, dass die zwei Lumpen gut im Karzer des Klosters verwahrt sind«, sagte der Wittelsbacher schließlich. »Der Fall ist abgeschlossen, und der Kurfürst kann zufrieden sein. Was dich angeht …« Er wrang sich das lange schwarze Haar und den Bart aus. »Sag mir einen Grund, Henker, warum ich dich nicht ebenso einsperren sollte. Einen.«
Jakob Kuisl grinste. »Vielleicht weil Euer Exzellenz schon bald einen guten Scharfrichter brauchen?«
»Dafür hab ich den Meister Hans aus Weilheim. Ein ausgezeichneter Mann. Der rädert auch seine eigene Mutter, wenn sie schuldig ist und er für die Hinrichtung viel Geld kassiert.« Der Graf lächelte schmal. »Vielleicht sollte ich ihn bitten, sich auch deiner anzunehmen. Schließlich hast du ganz offensichtlich eine der Andechser Klosterwachen auf dem Gewissen. Bis jetzt war ich gnädig, weil du der Schwiegervater dieses Baders bist, der sich um meinen Sohn kümmert. Und weil deine Tochter ein echtes Teufelsweib zu sein scheint. Aber meine Geduld hat auch ihre Grenzen.«
Der Henker nickte. »Meine auch«, knurrte er. »Hört her, dort draußen ist irgendwo noch der wahre Hexer, zusammen mit meinen Enkeln. Ich muss sie finden, und zwar jetzt. Danach entscheidet ganz so, wie Ihr es für richtig findet. Gehabt Euch wohl.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich zum Gehen.
Leopold von Wartenberg blieb verdutzt unter dem Torbogen stehen. Schließlich straffte er sich, er warf seinen Soldaten einen bösen Blick zu, doch diese hielten wohlweislich den Kopf gesenkt.
»Eine Stunde, Kuisl!«, rief der Graf gegen den tosenden Wind an. Der Henker war nur noch eine phantomgleiche Gestalt in der Dunkelheit. »Ich gebe dir eine Stunde, mir diesen wahren Hexer zu bringen! Und glaub nur nicht, dass du mit meiner Hilfe rechnen kannst! Eine Minute länger, und ich handel mit Meister Hans einen hübschen Lohn für deinen Kopf aus. Hast du verstanden?«
Doch Kuisl hörte ihn schon nicht mehr. Während erneut Hagelkörner vom Himmel prasselten, eilte er nach rechts, über den Kirchplatz, auf dem heute Mittag noch Hunderte Pilger gestanden hatten. Nun war das Gelände gähnend leer, Pfützen groß wie kleine Weiher hatten sich auf der festgetrampelten Erde gebildet; ein paar liegengebliebene Kalksäcke ragten wie kleine Felsinseln daraus hervor. Die Pilger hatten sich in den Bauernhäusern und Scheunen der Gegend verkrochen, wo sie das Unwetter abwarteten und zu allen Heiligen beteten, dass nicht direkt über ihnen der Blitz einschlug.
Kuisl stapfte durch das knöcheltiefe Wasser und warf gelegentlich einen Blick hinauf zum Kirchturm, doch er konnte hinter der Regenwand nichts Verdächtiges erkennen. Hatte er sich getäuscht? War Virgilius doch noch unten in den Katakomben und lauerte gerade eben Magdalena auf? Was musste seine Tochter auch immer so stur sein und ihren Kopf durchsetzen! Wie so oft war Jakob Kuisl, was Magdalena betraf, hin- und hergerissen zwischen Angst und Zorn. Wenn das alles hier vorbei war, würde er seiner Tochter jedenfalls gehörig den Arsch versohlen.
Wenn sie dann noch lebte.
Der Henker versuchte, die düsteren Gedanken zu verdrängen, und widmete seine Aufmerksamkeit wieder ganz der Turmspitze, in der der Glockenstuhl untergebracht war. Die Zimmerleute hatten mittlerweile ein neues Dach eingezogen und das poröse, vom Blitz zerstörte Mauerwerk ausgebessert. Nur an einer Seite war noch keine neue Wand errichtet, so dass an dieser Stelle ein kniehohes Gerüst als Befestigung dienen musste.
Plötzlich sah Kuisl knapp oberhalb dieses Gerüsts jemanden vorüberhuschen, nur für einen Moment war dort ein Schatten aufgetaucht. Doch dieser Moment hatte ausgereicht, um den Henker von der Richtigkeit seiner Idee zu überzeugen.
Jemand war oben auf dem Turm.
Atemlos rannte Kuisl die letzten Meter durch die spritzenden Pfützen, bis er den Eingang zur Kirche erreicht hatte. Das zweiflüglige Portal stand weit offen, so dass Regen, Blätter und Dreck bis zu den Kirchenbänken wehten. Der Wind hatte das notdürftige Leinendach teilweise zerrissen, einzelne Fetzen flatterten wie Fahnen im Sturm. Prasselnd ergossen sich Unmengen von Wasser auf Altäre, Heiligenfiguren und verwitterte Grabplatten im
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