Der Hexer und die Henkerstochter
du?«
Magdalena versuchte ein Lächeln, doch sie spürte, wie ihr dicke Tränen über das Gesicht liefen. Ihr jüngerer Sohn war verschollen, entführt von Virgilius und einem Mann, dem sie blind vertraut hatte. Und ihr Simon schien irgendein Gift geschluckt zu haben, von dem sie nicht wusste, ob es ihm den Tod bringen würde. Sie fühlte sich so traurig und verlassen wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
»Äääärzze …«
Aufgeschreckt aus ihrer bleiernen Einsamkeit wandte Magdalena sich wieder ihrem Mann zu. Erleichtert stellte sie fest, dass Simon mittlerweile die rechte Hand gehoben hatte. Die Lähmung schien vielleicht nicht so gravierend zu sein! Doch dann fiel ihr auf, dass Simon seinen Zeigefinger ausgestreckt hatte, ganz so, als wollte er auf etwas Bestimmtes deuten. Magdalenas Augen folgten der Richtung des Fingers, bis ihr Blick schließlich an dem kleinen Altar endete.
Dort stand der winzige Stumpen der Kerze. Er schwamm in einer Lache aus Wachs, der Docht neigte sich bedrohlich zur Seite, schon bald würde er die Oberfläche des Altars erreicht haben, und die Kerze würde endgültig erlöschen.
»Äääärze«, keuchte Simon, und Magdalena zuckte zusammen.
Kerze.
Jetzt erst sah sie, dass sich am Rand der Wachslache weiße Körnchen befanden. Sie bildeten eine Spur, die vom Altar bis hinunter zum Boden und von dort zu etlichen größeren Haufen des grünlich leuchtenden Pulvers führten.
Mein Gott, der Phosphor! , durchfuhr es Magdalena. Wir werden alle miteinander in die Luft fliegen!
»Äääärze … Äääärze!«
Die Flamme züngelte, als sie ein leichter Windzug ergriff, einen Augenblick lang schien sie verlöschen zu wollen.
Dann berührte der brennende Docht den mit Pulver bestreuten Altar.
Sonntag, der 20. Juni Anno Domini 1666,
spätabends
raußen vor den Toren des Klosters tobte das schlimmste Gewitter, das Jakob Kuisl seit vielen Jahren erlebt hatte. Er konnte sich noch daran erinnern, wie er als Kind in ein ähnliches Unwetter geraten war. Damals hatte der Wind ganze Bäume davongetragen, und die Blitze waren wie Musketenfeuer übers Land gezogen. Auch diesmal war der Himmel grell erleuchtet von unzähligen gleißenden Lichtstrahlen, die Wolken waberten schwarz und violett wie am Tag des Jüngsten Gerichts.
Direkt über dem Henker donnerte es so heftig, dass Kuisl kurz glaubte, Gott selbst schlage mit einem Hammer gegen die Klostermauern. Gleich darauf flammte ein heller Blitz auf, und das Donnern wiederholte sich. Hagelkörner, groß wie Wachteleier, prasselten auf die Dächer ein. Das Gewitter musste nun genau über dem Heiligen Berg sein.
Eine Zeitlang blieb der Henker unentschlossen im Torbogen des Klosters stehen und blickte auf die undurchdringliche Regenwand vor ihm. Von dem verschütteten Bergfried aus war Kuisl zunächst mit dem Grafen in den klösterlichen Bierkeller gelangt. Der Eingang zu den Katakomben der Burg war nur notdürftig hinter einigen Fässern verborgen gewesen, die Reliquienfälscher hatten sich keine große Mühe gemacht, das Loch in der Wand zu tarnen. Da Bruder Eckhart der Cellerar und damit auch Verwalter der klösterlichen Biervorräte gewesen war, hatte außer ihm nur selten jemand diesen Keller aufgesucht.
Nun stand Kuisl am Eingang zum Kloster und fragte sich, ob er mit seiner Idee vielleicht doch falschlag. Regen und Wind waren so stark, dass es eigentlich an Selbstmord grenzte, bei diesem Wetter einen Blitz anzulocken – zumal Kuisl noch nicht wusste, wo er eigentlich genau suchen sollte. War Virgilius irgendwo im Wald, in seinem Uhrmacherhaus, auf einem Hügel? Kuisl wusste aus Erfahrung, dass Blitze immer an den höchsten Stellen einschlugen, und die höchste Stelle hier war …
Der Kirchturm!
Kuisl schlug sich gegen die Stirn, weil er nicht eher darauf gekommen war. Die Angst um seine Enkel musste ihm das Hirn ausgetrocknet haben. Virgilius war bestimmt oben im Kirchturm! Hier hatte Nepomuk seine Blitzbanner aufgehängt, und hier hatte der verrückte Uhrmacher offensichtlich auch danach noch experimentiert. Virgilius musste dort oben sein!
Gerade wollte Kuisl das Portal verlassen, als er vor sich in der Dämmerung plötzlich hastige Schritte hörte. Eine Gruppe Männer war schemenhaft im strömenden Regen zu sehen und eilte auf das Brauhaus zu. Es war der Graf, der mit seinen Soldaten zurückkam. Allesamt waren sie klatschnass, das Wasser floss ihnen in Bächen aus Ärmeln und Hosenbeinen. Doch trotz des Unwetters versuchte
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