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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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den schreienden und zappelnden Paul ganz fest an sich. »Nun gut, er weint jetzt«, fuhr er mit schmeichlerischer Stimme fort. »Er hat Angst, das ist verständlich. Aber auch du hast Angst gehabt, als du das erste Mal in mein Labor kamst, erinnerst du dich? Ein kleiner stummer Junge warst du, ohne Eltern, verstoßen und verlacht von den anderen. Ich erst habe dir etwas gegeben, was dich über diese ganzen Bauerntölpel erhebt. Gelehrsamkeit! Und wenn du nur ein kleines bisschen Geduld hast, nur noch ein klein wenig, dann werde ich dir auch deine Stimme wiedergeben! Aurora, du und ich, wir werden eine Familie sein. Wir werden diesen Jungen hier aufnehmen, und …«
    »Wo ist mein zweiter Enkel, du Ungeheuer?«, brüllte der Henker nun und kam drohend auf Virgilius zu. Der kleine Paul hatte mittlerweile seinen Großvater entdeckt und versuchte sich dem Griff des buckligen Uhrmachers zu entwinden, doch dieser hielt ihn wie mit Schraubzwingen fest.
    »Red schon, was hast du verkrüppelte Drecksau mit ihm gemacht?«, schrie Kuisl noch einmal.
    Matthias sah zu Virgilius hinüber, als erwartete auch er von ihm eine Antwort.
    »Er … er ist bei seinem Vater«, stammelte der Uhrmacher. »Es geht ihm gut …«
    Ein Knurren ertönte, wie von einem sehr zornigen Bären. Matthias schüttelte wild den Kopf. Kuisl konnte förmlich sehen, wie in der Brust des Gesellen zwei Seelen mitein­ander rangen. Auch Virgilius schien dies zu merken. Mit dem sich windenden Buben auf dem Arm ging er langsam auf Matthias zu, wobei er immer wieder argwöhnisch zu Kuisl hinüberblickte. Kurz erwog der Henker, einfach nach vorne zu springen und nach dem Jungen zu greifen. Doch die Gefahr, dass Paul etwas passierte, war einfach zu groß – zumal Kuisl noch immer nicht wusste, wie sich Matthias verhalten würde.
    »Sieh mal«, sagte Virgilius und legte seinem Diener die Hand auf die breite Schulter. Fürsorglich führte er ihn ­hinüber zu dem nur kniehohen Gerüst, hinter dem der ­Abgrund gähnte. »Kannst du Erling dort drüben erkennen?«, fragte der Uhrmacher und deutete hinaus in das Unwetter. »Den kleinen Friedhof am Rande des Dorfes? Dort sind auch deine Eltern begraben. Erinnerst du dich, wie oft du in den ersten Jahren geweint hast, weil sie tot waren? Dieser lausige Schinder Graetz hat dir vielleicht Lohn und Brot gegeben, aber ein schlauer Bursche wie du, der ist zu Höherem geboren! Du sollst Zeuge werden, wie der Mensch Leben erschafft. Sieh dir den Friedhof genau an!«
    Virgilius schob Matthias noch näher an das Gerüst ­heran. Der Geselle ließ es widerwillig mit sich geschehen, irgendetwas an der Stimme des Uhrmachers schien ihn zu besänftigen. Er beugte sich über den Rand und starrte hinüber zu dem kleinen Friedhof, der im peitschenden Regen jedoch kaum zu sehen war.
    »All die Toten, die dort liegen«, fuhr Virgilius mit sanfter Stimme fort. »Wir könnten sie zurückholen. Auch deine Eltern. Wie wäre das? Oder weißt du, was noch besser wäre? Wenn du sie einfach jetzt … besuchen würdest. Leb wohl.«
    Unvermittelt gab der Bucklige Matthias einen Schubs, und der kräftige Geselle begann wild mit den Armen zu rudern. Er schwankte wie eine mächtige Eiche im Sturm. Im Dunkel des Gewitters konnte Kuisl die Augen des Uhrmachers hasserfüllt leuchten sehen. Bevor der Henker ­reagieren konnte, hatte Virgilius seinem Diener einen weiteren Stoß gegeben. Matthias grunzte und wandte den Kopf noch einmal kurz seinem Meister zu, beinahe erstaunt, so als erwarte er eine letzte Antwort. Dann brach er durch die dünne hölzerne Balustrade und stürzte ohne einen weiteren Laut auf das Dach der Kirche, dort, wo es mit Leintüchern notdürftig abgedeckt war. Matthias’ Körper wurde für einen winzigen Moment von den Tüchern aufgefangen, bevor diese endgültig zerrissen und der ­Geselle krachend im darunterliegenden Kirchenschiff aufschlug.
    Oben im Glockenstuhl war für eine Weile nur Kinderwimmern und das Rauschen des Regens zu hören. Mit müdem Gesichtsausdruck starrte Virgilius hinab auf das zerstörte Dach, während der kleine Paul noch immer in seinen Armen zappelte.
    »Schade, wirklich schade«, sagte Virgilius schließlich und trat von der zersplitterten Balustrade weg. »Er war ein gelehrsamer Schüler. Und so … verschwiegen.« Er lächelte leise und blickte hinauf zum schwarzen Himmel, an dem einzelne Blitze zuckten. »Doch du hattest recht, Henker. Am Ende hat er mir nichts mehr bedeutet. Er war ein Hindernis.

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