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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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grimmig. Hätten die kroatischen Söldner den Sauhund damals besser umgebracht! Dann müsste ich das jetzt nicht tun.
    Doch als Kuisl Matthias’ Gesicht sah, stutzte er. Die Au gen des Gesellen waren seltsam leer und rot. Beinahe machte es den Anschein, als wären das, was ihm über die Wangen rann, nich t Regentropfen, sondern Tränen.
    »Was zögerst du noch?«, schrie Virgilius jetzt gegen den Sturm an. »Bette meine Aurora auf die Bahre, so wie wir es besprochen haben!« Er senkte seine Stimme und versuchte ein Lächeln. »Du willst doch deine Zunge wieder, nicht wahr? Ich kann sie dir beschaffen! So, wie ich dieser Puppe Leben einhauche, kann ich dir auch deine Stimme zurück­geben. Glaub mir! Du darfst so kurz vor dem Ziel nicht zu zweifeln beginnen, sonst war alles umsonst!«
    Zögernd schritt Matthias hinüber zu dem Automaten, wobei er immer wieder zu dem kleinen Paul hinübersah. Der Bub streckte seine Ärmchen nach dem stummen Gesellen aus, sein Weinen steigerte sich zu einem Schreien, das sogar die Donnerschläge übertönte.
    »Verflucht, dem Jungen wird nichts passieren!«, rief ­Virgilius, als er Matthias’ besorgten Blick sah. Er wiegte mechanisch das Kind, das sich dadurch aber nicht beruhigen ließ. »Er ist nur mein Faustpfand. Sobald das hier zu Ende ist, kannst du das Balg wiederhaben. Versprochen! Und jetzt mach endlich, bevor der Blitz noch zu früh einschlägt.«
    Matthias nickte brummend, dann packte er die Puppe mit seinen kräftigen Armen und lehnte sie an die Bahre. Schnappend schlossen sich die Metallbänder um ihre steifen Beine und Arme; die dünnen Drähte befestigte der Geselle an den jeweiligen Klammern, einen weiteren wickelte er wie eine Henkersschlinge um Auroras Porzellanhals.
    Offensichtlich hatte Virgilius den Automaten für seinen letzten großen Auftritt geschminkt, denn über das wächserne Gesicht der Puppe liefen schwarze und rote Bahnen nasser Tusche. Grinsend bot sie sich dem Unwetter dar, das nun noch einmal mit ganzer Macht über dem Kirchturm tobte.
    »Jetzt müssen wir nur noch auf den richtigen Augenblick warten!«, schrie Virgilius gegen den Lärm an und tanzte auf der Stelle wie ein wild gewordener Derwisch. »Der Blitz wird in den Draht am Dach einfahren, von dort in meine geliebte Aurora, und dann …«
    Ein Bersten ertönte, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Knall. Irgendwo in der Nähe musste es eingeschlagen haben. Der Krach war so gewaltig, dass Jakob Kuisl unwillkürlich zusammenzuckte und sich zur Seite rollte. Aus dem Augenwinkel heraus sah er, dass Virgilius ihn hinter den Glocken entdeckt hatte. Hasserfüllt starrte der Uhrmacher seinen Feind an.
    »Ha! Siehst du nun, warum ich das Kind als Faustpfand brauche?«, wandte er sich kreischend an Matthias. »Dieser Henker und seine ganze verfluchte Familie! Schon als du mir das erste Mal von ihnen erzählt hast, wusste ich, dass sie Schwierigkeiten machen würden. Habe ich dir nicht ein Dutzend Mal gesagt, du sollst wenigstens dieses neugierige Weib aus dem Weg räumen?«
    Auch Matthias hatte den Henker mittlerweile gesehen. Unschlüssig stand er in der Mitte der Plattform wie ein Fels im Meer, umtost von Sturm und Hagel. Er schien zu keiner Regung mehr fähig.
    »Schnapp ihn dir, Matthias!«, brüllte Virgilius. »Er will unseren Plan zunichtemachen. Verstehst du nicht? Denk an deine Stimme!«
    Jakob Kuisl richtete sich hinter dem Glockenstuhl auf. Ruhig blickte er in die rotgeweinten Augen des Schindergesellen, die Hände hielt er in einer Geste des Friedens nach oben.
    »Du weißt, dass dies hier nicht richtig ist, nicht wahr, Matthias?«, brummte Kuisl. »Du kannst mir nichts vormachen. Ich bin ein Henker, ich hab viele Mörder gesehen. Du bist keiner, jedenfalls kein Kindermörder.« Vorsichtig trat er einen Schritt auf den stummen Gesellen zu, der sich noch immer nicht von der Stelle gerührt hatte. »Wenn du mich im Kampf besiegst, wird dieser Verrückte mit dem Buben kurzen Prozess machen. Er wird ihn vom Turm werfen. Der Junge bedeutet ihm nur so lange etwas, wie er mich damit erpressen kann. Genauso wenig, wie du ihm etwas bedeutest.«
    »Das … das ist nicht wahr, Matthias!«, ging Virgilius dazwischen. »Denk daran, wie ich mich um dich gekümmert habe, als du noch klein warst. Habe ich dich nicht alles gelehrt? All die Schriften, die Experimente und Apparaturen! Hab ich dir nicht eine Sprache gegeben, mit der man sich auch ohne Zunge verständlich machen kann?«
    Der Uhrmacher drückte

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