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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Pötzsch
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mittleren Kirchenschiff.
    Verdutzt sah sich der Henker um. Er hatte damit ge­rechnet, dass wenigstens ein paar der Benediktiner hier Ordnung schaffen würden. Doch die Kirche war menschenleer. Hatten die Mönche etwa zu viel Angst vor dem Unwetter? Oder hatten sie vielleicht schon davon erfahren, dass drei ihrer führenden Mitglieder als Reliquienfälscher überführt worden waren? In diesem Fall war es gut möglich, dass die Fratres sich in ihre Zellen verkrochen hatten, aus Furcht, selbst noch befragt und verhaftet zu werden.
    Nach kurzem Zögern eilte Kuisl vorbei an den nassen, schlammbespritzten Kirchenbänken, während über ihm der Wind tobte und heulte. Er hatte keine Zeit für Grübeleien. Wenn seine Mutmaßungen zutrafen, dann befanden sich dort oben – Hagel, Blitz und Regen hilflos ausgeliefert – seine zwei geliebten Enkel! Dieser Virgilius würde sich noch wünschen, nie geboren worden zu sein.
    Kuisl rannte die Treppe zum Chor hinauf und von dort weiter über eine Stiege in das Innere des Kirchturms. Auch jetzt, nach gut zwei Wochen, waren die Arbeiten darin noch lange nicht abgeschlossen. Der Sturm pfiff durch die nackten Fensterlöcher, die schmale, frisch gezimmerte Treppe war glitschig und ächzte im Wind. Steil führten die Stufen hinauf zur Plattform, und je höher Kuisl stieg, desto mehr schien sich der gesamte Turm im Wind hin und her zu wiegen. Die Treppe quietschte und wimmerte wie ein altes Weib.
    Als Kuisl nur noch wenige Meter unterhalb des Glockenstuhls war, hielt er inne und lauschte. Es donnerte und blitzte, doch gleich darauf glaubte er, im Rauschen des ­Regens eine schrille Stimme zu hören. Sobald er ein wenig höher kam, konnte er sie deutlich vernehmen.
    »Mach schon!«, kreischte direkt über ihm ein Mann. »Bevor das Gewitter weiterzieht! Hab ich dir nicht bereits gestern gesagt, du sollst den Apparat festnageln? Jetzt hat der Sturm ihn umgeweht, und alles verzögert sich!«
    Als Antwort erklang ein tiefes Brummen, dann waren Hammerschläge zu hören. Dazwischen ertönte das leise Weinen eines Kindes.
    Kuisl zuckte zusammen. Dort oben schienen tatsächlich seine Enkel zu sein! Bei dem zweiten Mann handelte es sich ganz offensichtlich um Virgilius’ Helfer. Vorsichtig schlich der Henker die letzten Stufen hinauf und steckte seinen Kopf durch die Öffnung, die zur Plattform führte.
    Zunächst konnte er vor sich nur die drei Bronzeglocken erkennen, die in der Mitte des Dachstuhls zwischen eisenummantelten Balken aufgehängt waren. Der Boden aus frischen Fichtenbrettern schien neu zu sein, doch an den Wänden klebte immer noch der Ruß, den das verheerende Feuer vor einigen Wochen hinterlassen hatte. An der Ostseite gähnte hinter dem nur kniehohen Gerüst der Abgrund, Regenschauer wehten von dort in den Raum hinein.
    Als Jakob Kuisl sich schließlich ganz durch die Öffnung gestemmt hatte, sah er hinter den Glocken undeutlich den Rücken eines breitschultrigen Manns, der soeben den Hammer hob und eine Art Bahre hochkant an die Wand nagelte. An dem Holzbrett befanden sich Metallklammern, wie sie Kuisl von Streckbänken her kannte; von der Decke baumelte ein dicker Draht, von dem weitere dünne Drähte wegführten, die mit den Klammern verbunden ­waren.
    Links von der Bahre standen drei Menschen, die im ­tosenden Wind wie das Zerrbild einer Familie wirkten. Es waren der bucklige Virgilius und eine vornehm wirkende Frau mit rotem Umhang und schiefer Haube, unter der ihre blonden Haare im Wind wehten. Die Gestalt wirkte seltsam steif, Kuisl brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass es sich um eine lebensgroße Puppe handelte.
    Auf den Armen des Uhrmachers wand sich weinend der kleine Paul.
    Im ersten Augenblick wollte Kuisl sich brüllend auf die Plattform stürzen, doch dann hielt er inne und überlegte. Die Gefahr war einfach zu groß, dass Virgilius dem Kind etwas antat oder es am Ende gar vom Turm warf. Der Henker beschloss deshalb, sich näher an die Gruppe heranzuschleichen und auf eine günstigere Gelegenheit zu warten. Vorsichtig kroch er hinter den Glockenstuhl und beobachtete von dort aus das weitere Geschehen.
    Nachdem der breitschultrige Mann seine Arbeit beendet hatte, steckte er den Hammer in seinen Gürtel und wandte sich Virgilius zu. Kuisl biss sich auf die Lippen, als er endlich das Gesicht des Helfers erkannte.
    Es war der stumme Schindergeselle Matthias.
    Was für ein Kuckucksei hat man dir da bloß ins Nest gelegt, lieber Vetter! , dachte der Henker

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