Der Highlander und der wilde Engel
hatte sie ihm eingebläut, dass der Tag kommen werde, an dem er seinem Vater die Herrschaft über Stewart zum Wohle der Menschen dort aus den Händen nehmen müsse - notfalls mit Gewalt.
Heute also war der Tag, dachte er düster, während er den Burghof querte und auf die Treppe zum Wohnturm zuhielt.
Als er sein Pferd zügelte und aus dem Sattel stieg, hörte er die freudig gelallten Rufe des Bruders - welcher von beiden es auch war der auf der Wehrmauer Fergus bedrängt hatte. Offenbar war er nicht länger auf der Mauer, sondern kam nun auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Doch Kade war nicht in der Stimmung, um sich mit jemandem in einer solchen Verfassung aufzuhalten. Er beachtete die Rufe nicht, sondern half Averill vom Pferd und führte sie umgehend die Stufen hinauf und in den Wohnturm, wobei er Will und dessen Hauptmann in seinem Rücken wusste.
In dem Bemühen, seinem Bruder zu entgehen,-schritt er so rasch aus, dass er den Zustand des Burghofs gar nicht wahrnahm; den Zustand des Wohnturms zu übersehen, war hingegen schwer. Als er die große Halle betrat, hielt er jäh inne, presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und rümpfte die Nase ob des üblen Geruchs, der in der Luft hing.
Von dem, was er erfahren hatte, konnte es kaum mehr als sieben Monate her sein, dass seine Schwester Merry sich vermählt hatte und nach England gezogen war. Seitdem schien sich niemand mehr besonders, wenn überhaupt, um die große Halle gekümmert zu haben. Und er konnte leicht den Grund dafür ausmachen, als von der aufgebockten Tafel polterndes Lachen an seine Ohren drang. Er schaute hinüber und sah dort seinen Vater und einen weiteren Mann sitzen. Der Bruder auf der Wehrmauer musste Brodie gewesen sein, denn Gawain war der Saufkumpan seines Vaters am Tisch - oder vielmehr darunter, dachte Kade und beobachtete angewidert, wie der Jüngere kichernd von seinem Platz hinab in die Binsen rutschte.
Er ließ den Blick über den Rest der Halle schweifen, betrachtete die verrußten Wände, die dringend frisch gekalkt werden mussten, und die schmuddeligen Wandbehänge, von denen manche nur noch an einer Stelle befestigt waren und traurig wie Fahnen in der Flaute hinabhingen. Danach begutachtete er das Innere der Halle und bemerkte, dass es außer ein paar Tischen kaum Möbel gab. Die Binsenstreu auf dem Fußboden war besudelt und voller Essensreste und anderem Unrat, den er gar nicht näher in Augenschein nehmen wollte. Auch hölzerne Trümmer entdeckte er hier und da, und er nahm an, dass sie einst Einrichtungsgegenstände gewesen waren.
Was ihn aber bei Weitem am meisten schmerzte, war, wie verlassen die Halle dalag. Die große Halle bildete das Herzstück einer Burg, und sowohl bei seinem Onkel Simon als auch auf Mortagne war sie stets voller Leben; Krieger kamen und gingen, Mägde schwirrten umher, und Menschen saßen da und unterhielten sich oder aßen. In dieser Halle war bis auf seinen Vater und seinen Bruder keine Menschenseele. Das Herz dieser Burg war gebrochen, und niemand mochte sich hier aufhalten.
„Bess, ich brauche meinen Reisebeutel vom Wagen.“
Aus Averills geflüsterten Worten schloss Kade, dass auch der Karren den Burghof erreicht und die Magd sich auf die Suche nach seiner Gemahlin begeben hatte. Sie war nicht alleine eingetreten. Hinter ihr standen mehrere Mortagne-Mannen, und zwei hatten sich die Arme seines besinnungslosen Bruders Brodie über die Schultern gelegt und hielten ihn aufrecht.
„Er ist auf der Treppe gestürzt“, erklärte einer der Männer in verhaltenem Ton. Dabei vermied er es, Kade in die Augen zu sehen. Sie alle wichen seinem Blick aus, fiel ihm auf, und er spürte Scham in sich aufwallen, weil sie Zeuge dieses Debakels wurden.
„Bringt ihn in sein Gemach, ich werde mich um ihn kümmern“, wies Averill sie ruhig an.
„Sofort, Mylady“, erwiderte der Kämpe, der zuvor das Wort an Kade gerichtet hatte. Er räusperte sich. „Und wo finden wir sein Gemach?“
Kade sah Averill zweimal blinzeln. Sie wandte sich ihm zu. „Wisst Ihr, wo seine Kammer ist?“, wisperte sie.
Als er den Kopf schüttelte, schaute sie zu den beiden Zechern an der Tafel hinüber und nahm ihre Unterlippe zwischen die Zähne. Kade folgte ihrem Blick und sah, dass Gawain nun lang ausgestreckt auf dem Boden lag und schnarchte und sein Vater dabei war, es ihm nachzutun. Laird Stewarts Augen waren geschlossen, das Kinn war ihm auf die Brust gesackt, und langsam glitt er von seinem Stuhl abwärts, um
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