Der Highlander und der wilde Engel
Kopf schüttelte. „Bin ich aber nicht. Nur Kade.“
Sie schwieg, nicht sicher, ob er Kade diesen Umstand neidete. Und wenn ja, war die Missgunst groß genug, um einen Mordversuch zu rechtfertigen? Das bezweifelte sie. Gawain schien ihr ein anständiger Mensch zu sein, der lediglich vom rechten Wege abgekommen war. Ebenso hatte sie keine Geschichten gehört, die ihn als grausam ausgewiesen hätten.
Brodie hingegen war jemand, auf den man ein wachsames Auge haben sollte, dachte sie. Er hatte etwas Kaltblütiges, Gleichgültiges und Rohes an sich, das ihr zur Vorsicht riet, auch ohne die wenigen Anekdoten, die ihr über ihn zugetragen worden waren.
„So.“ Gawain seufzte erleichtert, als er endlich eine Tunika gefunden und sich übergestreift hatte. Er wandte sich Averill zu. „Würdet Ihr mich zu Kade bringen?“
„Natürlich“, murmelte sie und führte ihn zur Tür. Als sie den Gang entlangschritten, schien er schon ein wenig sicherer auf den Beinen zu sein, doch ihr entging nicht, dass er eine Hand in Richtung Mauer ausgestreckt hatte, als rechne er damit, jeden Moment zu stürzen. Sie wusste, dass er nicht so wohlauf war, wie er sich gab.
Als sie sich vor der Tür zur Kammer bückte und das Tablett mit den Speisen aufhob, spürte sie seinen verwunderten Blick auf sich, doch er sagte nichts, sondern öffnete ihr schweigend die Tür.
Sie murmelte einen Dank, schlüpfte an ihm vorbei ins Gemach und ging ihm voran zum Bett. Als die Männer sie bemerkten, verstummten sie.
Will und Fergus betrachteten Gawain lediglich aus schmalen Augen, während Kades Miene sich regelrecht verfinsterte. „Ich habe Euch doch gesagt, Ihr sollt Euch von meinem Vater und meinen Brüdern fernhalten, sofern ich nicht bei Euch bin! “, blaffte er ohne Rücksicht darauf, dass Gawain die Worte hörte.
„Ich weiß, aber er wollte Euch gerne sehen“, sagte Averill schlicht. Will erhob sich, um ihr das Tablett abzunehmen. Sobald sie es los war, geleitete sie Gawain zu dem Stuhl, auf dem ihr Bruder bis gerade eben gesessen hatte, denn sie fürchtete, dass er zusammensacken könnte, wenn er länger würde stehen müssen.
Will dankte es ihr mit einem wütenden Blick, schickte sich aber drein und ließ sich mit dem Tablett auf der Bettkante nieder. Hungrig nahm er die Gaben in Augenschein.
„Eine Schale ist für Fergus, und ich habe auch Met mitgebracht“, verkündete Averill. Sie umrundete den Stuhl, den nun Gawain einnahm, und trat ans Kopfende des Betts, wo sie sich vorbeugte und Kade auf die gerunzelte Stirn küsste. „Ich bin froh, Euch wach zu sehen“, sagte sie, „ob Ihr nun grimmig schaut oder nicht. Wie fühlt Ihr Euch?“
Er schnitt eine Grimasse, als sie ihm mit dem Handrücken die Stirn befühlte, um festzustellen, ob er Fieber hatte. „Ich bin es von Herzen leid, mich immerzu im Bett wiederzufinden“, knurrte er.
Sie lächelte und richtete sich auf. Er zeigte kein Anzeichen von Fieber, und wenn es ihm so gut ging, dass er mäkeln konnte, würde er bald wieder auf den Beinen sein. Soweit sie zu sagen vermochte, hatte der Pfeil nur eine Fleischwunde verursacht, ohne Eingeweide oder Knochen zu verletzen. Er hatte Glück gehabt. Ihr Blick fiel auf die leere Brotschale. „Seid Ihr satt oder soll ich Euch noch mehr Eintopf bringen?“, fragte sie.
„Ich möchte Euch keine Umstände machen“, brummte er.
„Ihr macht mir keine Umstände“, beteuerte Averill. „Ich hole ohnehin noch etwas für Gawain, und es ist keine Mühe, statt einer Schale zwei mitzubringen.“
Seine Miene verdüsterte sich erneut. „Ihr seid keine Dienstmagd. Lasst eine von denen das Essen heraufbringen.“
„Die Mägde haben anderweitig zu tun“, erwiderte sie eine Spur gereizt. „Also wollt Ihr nun einen Nachschlag oder nicht?“
Als Kade das Gesicht verzog, jedoch nickte, lächelte sie und sagte: „Bin gleich zurück.“
Sobald sie aus der Kammer war, drang ihr vom anderen Ende des Gangs Würgen ans Ohr. Mit gerunzelter Stirn zog sie rasch die Tür hinter sich zu und spähte in die Richtung. Die Geräusche kamen sowohl aus Brodies als auch aus seines Vaters Gemach. Die Wirkung hatte schneller als erwartet eingesetzt. Averill fragte sich, ob sie in ihrer Eile, die Tinktur unbemerkt in den Whisky zu geben, womöglich mehr als beabsichtigt hineingeträufelt hatte. Gut möglich, dachte sie und biss sich schuldbewusst auf die Lippe, zuckte aber gleich darauf mit den Schultern und schritt auf die Treppe zu. Entweder ließen die
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