Der Himmel auf Erden
für Spuren waren das, Simon?«, fragte er jetzt auf Schwedisch.
»Follow the TRACKS«, wiederholte Simon in seinem klaren Englisch, und Winter sah, dass sich die Erregung des Jungen steigerte, das Trauma kehrte zurück.
Plötzlich fing Simon an zu weinen. Winter wusste sehr wohl, dass man ein weinendes Kind nicht auf den Schoß, nicht in die Arme nehmen durfte, es während des Verhörs nicht berühren durfte. Das war nicht professionell. Darauf pfiff er jetzt und hob Simon auf seinen Schoß. Genau wie er gestern Bengt Johansson zu trösten versucht hatte, versuchte er jetzt Simon Waggoner zu trösten.
Er wusste, dass er es nicht ertragen würde, nicht noch wer weiß wie viele Tage. Er würde selbst Trost brauchen. Er sah sich im Flugzeug nach Malaga, ein Zukunftsbild in einem Bruchteil von Sekunden. In welchem Zustand würde er sich dann befinden?
*
Simons Eltern hatten nicht vorwurfsvoll gewirkt, aber er spürte eine große Schuld. Was hatte er dem Jungen angetan?
»Uns ist es genauso wichtig wie Ihnen«, sagte Barbara Waggoner. »Es wird gut gehen.«
Simon hob eine Hand, als er sich verabschiedete, in der anderen hielt er das Auto. Ein älterer Mann, der Großvater, musterte Winter unter buschigen Augenbrauen und murmelte seinen Namen in einem Dialekt, als er Winter die Hand reichte. Tweed, Portweinnase, Slippers, kalte Pfeife. The works. Winter legte den Zegna-Mantel über seinen Arm, schloss einen Knopf an seinem Sakko, nahm seine Sachen und ging zu seinem Auto. Er hatte die Videoausrüstung mit hineingenommen, sie aber nicht benutzt.
Sein Handy klingelte, bevor er den Linnéplatsen erreichte. »Gibt's was Neues?«, fragte Hans Bülow. »Wir wollten einander helfen, auf seriöse Weise.«
»Erscheinen morgen Zeitungen?«, fragte Winter.
»Die Göteborgs-Posten erscheint jetzt jeden Tag«, sagte Bülow. »Jeden Tag das ganze Jahr über.«
»Kann man das nicht gesetzlich verbieten?«
»Was ist los, Erik? Du klingst ein wenig müde.«
»Ich muss nachdenken«, antwortete Winter. »Was die Veröffentlichung angeht. Ich ruf dich heute Nachmittag an.«
»Wirklich?«
»Mir wird nichts anderes übrig bleiben, oder? Du hast meine kostbare geheime Handynummer bekommen? Du kannst mich jederzeit erreichen, oder?«
»Ja, ja, mal ganz ruhig. Bis dann.«
*
In Höhe von Handels klingelte es wieder. Winter meinte die Art des Atmens wiederzuerkennen, bevor sich die Person meldete.
»Wissen Sie inzwischen mehr?«, fragte Bengt Johansson.
»Von wo rufen Sie an, Herr Johansson?«
»Vo… von zu Hause. Ich bin gerade gekommen.« Winter hörte ihn wieder atmen. »Hier hat sich niemand gemeldet.« Das Atmen. »Gibt es inzwischen mehr? Etwas Neues?«
»Es gehen ständig Hinweise ein«, antwortete Winter.
»Gibt es keine Zeugen?«, fragte Bengt Johansson. »Es waren doch massenhaft Menschen da. Hat sich niemand von denen gemeldet?«
»Viele haben sich gemeldet«, sagte Winter.
»Und?«
»Wir überprüfen alle Hinweise.«
»Vielleicht finden Sie da etwas«, sagte Johansson. »Sie können die ja nicht einfach beiseite legen.«
»Wir legen sie nicht beiseite«, sagte Winter.
»Vielleicht finden Sie da was«, wiederholte Johansson.
»Wie geht es Carolin?«, fragte Winter.
»Sie lebt«, antwortete Johansson. »Wird… überleben.«
»Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Sie will nicht sprechen. Ich weiß nicht, ob sie es überhaupt kann.«
Winter hörte wieder die Pause. Bengt Johansson schien zu rauchen. Winter hatte heute noch nicht geraucht. Die Begierde war ganz verschwunden.
»Könnte sie… etwas getan haben?«, fragte Bengt Johansson. »Ist sie es vielleicht doch gewesen?«
»Das glaube ich nicht.« Nein. Carolin hat nichts damit zu tun, dachte Winter. Sie hatten diese Möglichkeit erwogen. Alles Entsetzliche war möglich. Aber sie hatten nichts gefunden, was darauf hindeutete, nicht bei ihr und nicht bei den Umständen. Ihre Schuldgefühle waren groß, aber anderer Art.
Er fuhr durch die Allen. Auf den Bäumen lagen noch Schneereste. Der Verkehr war dicht, die Geschäfte waren immer noch geöffnet. Guter Service. Auf der Avenyn bewegten sich mehr Fußgänger als sonst an Werktagen, mit mehr Päckchen. Natürlich. Langsam werden wir ein Volk der Konsumenten statt der Mitbürger, aber heute brauchst du dich darüber ja nicht zu beklagen, Erik.
Er hielt bei Rot. Ein Kind mit Zipfelmütze ging mit einer Frau vorbei, das Kind winkte ihm zu. Winter sah auf die Uhr. Noch zwei Stunden bis zum Kinderprogramm im
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