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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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das richtige Wort suchte, »… eine schwere Belastung.«
    Er hatte Rainer nichts vorwerfen wollen. Der aber verteidigte sich: »Mir blieb nichts anderes übrig. Die Polizei hatte bereits
     von unserer Freundschaft mit Kerstin gehört.«
    »Ja, klar, ist ja okay.«
    Wieder brach ihr Gespräch ab, als entfernten sich ihre Gedanken aus dem Zusammenhang, sodass es keinen Anknüpfungspunkt mehr
     gab. Eine Weile gingen sie stumm weiter, jeder für sich, im Gleichmaß ihrer gemeinsamen Abwesenheit.
    »Sollen wir noch bis zum See gehen?«, fragte Rainer schließlich und weckte ihn aus seinem Grübeln.
    »Nein, wozu? Kehren wir um.«
     
    Er konnte es nicht abschütteln, obwohl er, gleich nachdem er nach Hause gekommen war, sich mit einer Flasche Bier vor den
     Fernseher gesetzt hatte, um sich vor dem Schlafen noch etwas abzulenken. Er hatte die Programme durchgeschaltet, war hier
     und da einige |132| Minuten hängen geblieben und hatte schließlich ausgeschaltet, um ins Bett zu gehen. Aber er konnte es nicht abschütteln, schon
     gar nicht im Dunkeln. Denn nun sah er es wieder, als sei er ein unsichtbarer Zeuge, der in der regnerischen Nacht stand und
     beobachtete, wie Karbe mit seiner Frau aus dem Haus trat, in dem bereits alle Fenster dunkel waren, bis auf Rainers Wohnung
     im zweiten Stock. Sie wirkten eilig, wie auf der Flucht, in ungeschicktem Gedränge, in ihrer Bewegung, ihren Schritten nicht
     aufeinander eingestellt, was vor allem an ihr lag, ihrer Verwirrung und Hilflosigkeit. Er stellte sich vor, dass sie stolperte
     und Karbe ihren Arm packte, um sie, die sich schwach zu sträuben schien, mit eisernem Griff zu dem parkenden Auto zu führen,
     auf dessen Rücksitz der verschüchterte Junge saß. Oder ging sie widerstandslos mit, gelähmt vor Angst und Aussichtslosigkeit
     und der Resignation, die aus der Wiederholung entstand? Das Gefühl, bei ihren Freunden in Sicherheit zu sein, war mit Karbes
     Erscheinen sofort verfallen. Der Junge saß unten im Auto, das Pfand ihrer Machtkämpfe, und alles war wie immer. Karbes unbeirrbarer
     Anspruch auf sie schnitt sie ab von der übrigen Welt. Es war so, wie er es immer sagte: Die anderen gehen uns nichts an. Welche
     Möglichkeit blieb ihr, außer sich zu fügen und mit ihm zu gehen?
    Waren Rainer und seine Frau ans Fenster getreten, um sich diesen Aufbruch anzusehen? Den Moment, wie sie unten aus dem Haus
     kamen und auf das Auto zugingen, zwei Menschen, verstrickt in einen finsteren Zwang, der sie unauflöslich miteinander verband |133| . Darüber hatte Rainer nichts gesagt. Vielleicht weil er sich Vorwürfe machte, dass er die beiden hatte gehen lassen. Denn
     wenig später war sie tot, wurde zusammen mit dem Jungen aus dem Auto geborgen. Wahrscheinlich hatte Rainer sich gesagt: Es
     geht mich nichts an. Das ist seine Frau. Und es war ihre Entscheidung, mitzugehen oder zu bleiben, auch wenn Karbe den Jungen,
     der unten im Auto saß, schon in seiner Hand hatte. Rainer und seine Frau waren zurückgewichen vor diesem aussichtslosen Drama
     mit seinen zwanghaften Wiederholungen, das an diesem Abend in Gestalt einer verzweifelten wehrlosen Frau und eines außer sich
     geratenen Mannes in ihre friedliche Wohnung eingedrungen war. Sie waren zurückgewichen, erleichtert, dass Kerstin sich bereit
     erklärte, mit Karbe und dem Jungen nach Hause zu fahren, vielleicht um Gewaltsamkeiten zu verhindern oder nur, weil sie keinen
     Ausweg sah. Rainer hatte die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen und war ins Wohnzimmer gegangen, wo seine Frau ihn erwartete,
     beklommen und zugleich erleichtert, dass die Wohnung wieder ihnen allein gehörte. »Was für ein Theater!«, hatte vielleicht
     einer von ihnen gesagt, während draußen Karbe seine Frau in das Auto schob, die Tür zuschlug und sich hinter das Lenkrad setzte,
     um loszufahren mit seiner kleinen Familie, deren plötzliches Verschwinden ihn in Panik versetzt hatte.
    Dachte er etwas? Dachte er nichts? Sprachen sie? Oder saßen sie stumm nebeneinander, und nur als die ängstliche Stimme des
     Jungen auf dem Rücksitz fragte »Fahren wir jetzt nach Hause?«, sagte sie »Ja, |134| mein Schatz«, was sich anhörte, vielleicht auch anhören sollte, als ob alles in Ordnung sei und sie gemeinsam heimführen,
     um einen wirren und quälenden Tag friedlich zu beenden. Er konnte sich vorstellen, dass Karbe es so empfand, als er diesen
     kurzen Dialog zwischen seiner Frau und dem Jungen in dem engen Raum hörte, in dem sie

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