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Der Himmel ist kein Ort

Der Himmel ist kein Ort

Titel: Der Himmel ist kein Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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zusammengedrängt saßen und durch die
     regnerische Nacht fuhren. Fügte sich für ihn wieder alles zusammen, weil sie endlich zu dritt allein waren und zumindest bis
     zum Morgen allein bleiben würden? War es vorstellbar, dass sie sich entspannten in diesen letzten Minuten vor der Katastrophe,
     weil sie so nah beieinander und weit von allen anderen entfernt waren? Der Junge hatte vielleicht noch einmal geklagt, er
     sei müde, und sie hatte, ohne sich umzudrehen, geantwortet: »Wir sind ja bald zu Hause.« Sie sagte es mit eingeübter mütterlicher
     Fürsorglichkeit, aber mit einer müden, unbeteiligten Stimme, denn sie wollte nicht daran denken, es jedenfalls nicht zu dicht
     an sich heranlassen, dass sie in das Haus zurückkehrten, das seit Jahren der Ort ihrer Gefangenschaft und ihrer Unterwerfung
     war. Es war auch der Ort, wo sie gelernt hatte, sich in sich selbst zurückzuziehen.
    Und Karbe? Spürte er ihren Rückzug? Erwartete er, dass sie sprach? Er hatte einen seiner kurzen, immer wieder ergebnislosen
     Siege gegen die feindliche Welt errungen und versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl die Erregung der letzten Stunden in ihm nachbebte
     und er Mühe hatte, seinen Hass zu zähmen, den die Erinnerungsbilder in ihm auslösten. Was war es, das alle Menschen dazu veranlasste,
     sich gegen ihn zu verbünden |135| , um das kleine, zurückgezogene Leben, das er sich geschaffen hatte, zu zerstören? Und warum war seine Frau zu seinen Feinden
     übergelaufen? Warum verriet sie ihn und das Kind, das nur noch ein Bündel von Angst war? Warum saß sie wieder so stumm neben
     ihm und gab ihm damit zu verstehen, dass er keine Antworten auf seine Fragen zu erwarten hatte, weil sie alle längst beantwortet
     waren.
    Das alles glaubte er zu kennen. Karbe lebte aus, was er mit der Disziplin seines Amtes in sich bekämpft hatte, damals vor
     einem Jahr, als er verlassen worden war. Und nur, wenn er sich den Mann vorstellte, den er stumm und erstarrt an der Unglücksstelle
     angetroffen hatte und der ihm heute erschöpft von Schlaflosigkeit und Depression entgegengetreten war, konnte er sich von
     diesem Gespenst befreien.
    Ich, sagte er sich, bin es nicht gewesen, der den Wagen in den See steuerte. Und doch fühlte er, wie sich seine Finger krümmten,
     als umfassten sie das Lenkrad. Um was zu tun? Weshalb? In welchem Augenblick?
    Vielleicht hatte Karbe die Stummheit seiner Frau nicht ertragen und angefangen, sie erneut zu verdächtigen und zu verhören,
     wie immer in der selbstzerstörerischen Wut, mit der er seine heimliche, stets wiedererwachende Hoffnung bekämpfte, sie könnte
     ihm diesmal eine Antwort geben, die seine Verzweiflung für immer von ihm nahm. Sie hatte das wohl anfangs versucht, aber immer
     nur neue Verdächtigungen hervorgerufen, und seit Langem war ihre Kraft erschöpft, und es war ihr keine andere Möglichkeit |136| geblieben, als ihn noch mehr zu reizen, indem sie hartnäckig schwieg.
    Diesmal hatte sie vielleicht auch dazu keine Kraft mehr und schrie ihn an, löste sein Brüllen aus und den jämmerlichen Diskant
     des Kindes, das sie in Panik anflehte, aufzuhören mit dem Streit, ohne dass einer von ihnen fähig oder auch nur willens gewesen
     wäre, seine Wut zu unterdrücken und sich wieder in den Griff zu bekommen. Es war ein blindwütiger, wahrscheinlich nur kurz
     dauernder Tumult, in dem einer den anderen überschrie, bis sie plötzlich alle sichtbar wurden im Licht aufgeblendeter Scheinwerfer,
     die auf sie zukamen, sodass ihre Schreie nun diesem Augenblick galten, in dem sich die Welt unter ihnen wegdrehte und dem
     Auto eine neue Richtung aufzwang, den Abhang hinunter, springend und stoßend, auf die schwarz schimmernde Wasserfläche des
     Sees zu.
    Eine Tür sprang auf, und ein Körper stürzte heraus, blieb liegen, dicht vor der Wassergrenze, hinter der das Auto versank.
     Die Luft des Innenraumes entwich als ein Strom glucksender Blasen. Dann verschwand der Wagen unter der Wasserfläche, lautlos,
     mit einem einzigen Ruck. Und Karbe, der Mann dort auf der Erde, rappelte sich auf und starrte auf das geglättete Wasser wie
     jemand, der nach etwas suchte, das dort gewesen sein musste, ein Zeichen seines vergangenen Lebens, das plötzlich verschwunden
     war und ihn zurückgelassen hatte in dieser ungeheuerlichen dunklen Leere und Endgültigkeit, die ihm lange Augenblicke alle
     Gedanken nahm. Nur sein Herz schlug so schnell, als ob er angestrengt, am Rande seiner Kräfte, |137| davonlief.

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