Der Himmel ist kein Ort
zusammengedrängt saßen und durch die
regnerische Nacht fuhren. Fügte sich für ihn wieder alles zusammen, weil sie endlich zu dritt allein waren und zumindest bis
zum Morgen allein bleiben würden? War es vorstellbar, dass sie sich entspannten in diesen letzten Minuten vor der Katastrophe,
weil sie so nah beieinander und weit von allen anderen entfernt waren? Der Junge hatte vielleicht noch einmal geklagt, er
sei müde, und sie hatte, ohne sich umzudrehen, geantwortet: »Wir sind ja bald zu Hause.« Sie sagte es mit eingeübter mütterlicher
Fürsorglichkeit, aber mit einer müden, unbeteiligten Stimme, denn sie wollte nicht daran denken, es jedenfalls nicht zu dicht
an sich heranlassen, dass sie in das Haus zurückkehrten, das seit Jahren der Ort ihrer Gefangenschaft und ihrer Unterwerfung
war. Es war auch der Ort, wo sie gelernt hatte, sich in sich selbst zurückzuziehen.
Und Karbe? Spürte er ihren Rückzug? Erwartete er, dass sie sprach? Er hatte einen seiner kurzen, immer wieder ergebnislosen
Siege gegen die feindliche Welt errungen und versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl die Erregung der letzten Stunden in ihm nachbebte
und er Mühe hatte, seinen Hass zu zähmen, den die Erinnerungsbilder in ihm auslösten. Was war es, das alle Menschen dazu veranlasste,
sich gegen ihn zu verbünden |135| , um das kleine, zurückgezogene Leben, das er sich geschaffen hatte, zu zerstören? Und warum war seine Frau zu seinen Feinden
übergelaufen? Warum verriet sie ihn und das Kind, das nur noch ein Bündel von Angst war? Warum saß sie wieder so stumm neben
ihm und gab ihm damit zu verstehen, dass er keine Antworten auf seine Fragen zu erwarten hatte, weil sie alle längst beantwortet
waren.
Das alles glaubte er zu kennen. Karbe lebte aus, was er mit der Disziplin seines Amtes in sich bekämpft hatte, damals vor
einem Jahr, als er verlassen worden war. Und nur, wenn er sich den Mann vorstellte, den er stumm und erstarrt an der Unglücksstelle
angetroffen hatte und der ihm heute erschöpft von Schlaflosigkeit und Depression entgegengetreten war, konnte er sich von
diesem Gespenst befreien.
Ich, sagte er sich, bin es nicht gewesen, der den Wagen in den See steuerte. Und doch fühlte er, wie sich seine Finger krümmten,
als umfassten sie das Lenkrad. Um was zu tun? Weshalb? In welchem Augenblick?
Vielleicht hatte Karbe die Stummheit seiner Frau nicht ertragen und angefangen, sie erneut zu verdächtigen und zu verhören,
wie immer in der selbstzerstörerischen Wut, mit der er seine heimliche, stets wiedererwachende Hoffnung bekämpfte, sie könnte
ihm diesmal eine Antwort geben, die seine Verzweiflung für immer von ihm nahm. Sie hatte das wohl anfangs versucht, aber immer
nur neue Verdächtigungen hervorgerufen, und seit Langem war ihre Kraft erschöpft, und es war ihr keine andere Möglichkeit |136| geblieben, als ihn noch mehr zu reizen, indem sie hartnäckig schwieg.
Diesmal hatte sie vielleicht auch dazu keine Kraft mehr und schrie ihn an, löste sein Brüllen aus und den jämmerlichen Diskant
des Kindes, das sie in Panik anflehte, aufzuhören mit dem Streit, ohne dass einer von ihnen fähig oder auch nur willens gewesen
wäre, seine Wut zu unterdrücken und sich wieder in den Griff zu bekommen. Es war ein blindwütiger, wahrscheinlich nur kurz
dauernder Tumult, in dem einer den anderen überschrie, bis sie plötzlich alle sichtbar wurden im Licht aufgeblendeter Scheinwerfer,
die auf sie zukamen, sodass ihre Schreie nun diesem Augenblick galten, in dem sich die Welt unter ihnen wegdrehte und dem
Auto eine neue Richtung aufzwang, den Abhang hinunter, springend und stoßend, auf die schwarz schimmernde Wasserfläche des
Sees zu.
Eine Tür sprang auf, und ein Körper stürzte heraus, blieb liegen, dicht vor der Wassergrenze, hinter der das Auto versank.
Die Luft des Innenraumes entwich als ein Strom glucksender Blasen. Dann verschwand der Wagen unter der Wasserfläche, lautlos,
mit einem einzigen Ruck. Und Karbe, der Mann dort auf der Erde, rappelte sich auf und starrte auf das geglättete Wasser wie
jemand, der nach etwas suchte, das dort gewesen sein musste, ein Zeichen seines vergangenen Lebens, das plötzlich verschwunden
war und ihn zurückgelassen hatte in dieser ungeheuerlichen dunklen Leere und Endgültigkeit, die ihm lange Augenblicke alle
Gedanken nahm. Nur sein Herz schlug so schnell, als ob er angestrengt, am Rande seiner Kräfte, |137| davonlief.
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