Der Himmel so fern
nur noch wir zwei übrig –, kam er mir zunehmend deprimierter vor. Einmal hatte ich ihn nach Hause begleitet und einen Streit zwischen Alex und seiner Mutter miterlebt. Ich hatte ratlos dagestanden und die harten Worte mit angehört, und die Erinnerung an die Erziehungsversuche meiner eigenen überforderten Mutter hatte nicht gerade dazu beigetragen, dass ich ihm eine Hilfe war. Danach hatte Birger mich nicht noch einmal gebeten mitzukommen, und wenn ich ihn auf Alex ansprach, war seine Antwort meist eher ein undefinierbares Brummen. Vielleicht hätte ich das als Wink verstehen sollen, dass mein Interesse nicht erwünscht war? Und was hatte ich im Übrigen mit einem schwierigen Teenager zu tun? Ich kannte ihn ja nicht einmal. Was konnte ich tun, konnte ich überhaupt irgendetwas tun? Ich wusste nicht, wie man mit Jugendlichen redete, und schon gar nicht mit welchen, die nicht in der Spur liefen, ich hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern. In meinem Leben waren sie meist nur im Weg gewesen, ein Grund, warum manche Kollegen zu spät zu den Meetings erschienen. Kinder wurden krank, brauchten viel Zeit, kosteten Geld und lenkten kompetente Menschen von ihrer Arbeit ab. Dass das Bild oberflächlich war, wusste ich schon zu Lebzeiten, aber ich hatte kein Interesse, es zu verändern. Kinder waren etwas für die anderen. So sagte ich es auch zu Mikael. Er schnitt das Thema nur selten an, aber ich wusste, was er dachte, und als vorbeugende Maßnahme – um der Diskussion aus dem Weg zu gehen – nutzte ich mitunter die Gelegenheit, meine Meinung im Zusammenhang mit den familiären Anstrengungen meiner Bekannten und Kollegen kundzutun.
»Ich bin kein Unmensch«, sagte ich immer wieder. »Ich weiß, dass Kinder die erste Geige spielen müssen. Aber jedes Mal, wenn ich jemanden von seinen kranken Kleinen erzählen höre, bin ich heilfroh über meine Entscheidung. Die einzigen Krankheiten, die mich von etwas abhalten können, sind die, die mich selbst erwischen, und solange es Schmerztabletten gibt, sind auch die kein Problem. Ich bin schon mit Mageninfekten geflogen, habe Millionenverträge mit Migräne abgeschlossen und Geschäftstermine mit vierzig Grad Fieber überstanden, ohne dass jemand etwas gemerkt hätte. Für mich ist es eine Frage von Freiheit, sich nicht von anderen einschränken zu lassen.«
Von
anderen
, nannte ich es. Als ob ein eventuelles Kind mit mir nichts zu tun gehabt hätte. Ich wusste, dass das für Mikael eine Provokation darstellte, aber er hatte keine Chance, meine Einstellung zu ändern, und mit den Jahren hatte er auf meine Provokationen immer öfter damit reagiert, dass er sich entzog. Nach so einer Diskussion konnte er tagelang schweigen. Ich nahm das als Zeichen meiner Überlegenheit, meine Argumente waren stichhaltig und unangreifbar. Ich hatte mich durchgesetzt.
Nun stand ich jedenfalls in diesem Raum und hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was ich tun könnte. Der Junge im Bett war nicht krank. Er schwänzte nicht einmal die Schule. Es war zwanzig nach drei in der Nacht, und er war noch nicht eingeschlafen. Birger hatte mit Sorge davon berichtet, wie spät er schlafen ging. Und dass er morgens nicht aus dem Bett kam, wenn die Schule begann, und wenn er es dann doch schaffte loszukommen, im Unterricht meist dasaß und schlief. Monica hatte schon aufgegeben, erzählte er. Die Schlafgewohnheiten eines Fünfzehnjährigen ließen sich nicht mehr beeinflussen. Und einige andere Gewohnheiten nebenbei gesagt auch nicht.
Vorsichtig trat ich ein paar Schritte näher an das Bett und hockte mich vor ihn, so dass mein Gesicht ganz nah an Alex war.
»Alex«, sagte ich, so sanft ich konnte. Ich machte eine Pause. Was sollte ich ihm sagen? Was spielte für ihn wohl eine Rolle? »Ich heiße Rebecka und bin eine Freundin deines Vaters.« Hörte er ihr zu? »Ich weiß, dass du auf ihn böse bist, er war kein guter Vater. Ich kenne das Gefühl.« Ich hielt wieder inne und betrachtete das Gesicht eingehend, das ich vor mir hatte, dann fuhr ich fort, nun etwas selbstsicherer. »Wie oft habe ich mir gewünscht, mein Vater wäre tot, ich dachte, dann würde es einfacher sein, aber ich weiß nicht, ob das stimmt. Ist es leichter, Alex? Oder wünschtest du, er wäre hier?« Alex blinzelte. »Mein Vater ist am Leben. Aber ich nicht. Ich habe etwas Dummes gemacht, genau wie dein Vater. Ich habe etwas sehr Dummes gemacht, viele dumme Sachen.« Ich verstummte. Das klang so blöd, als ob ich mit einem kleinen
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