Der Himmel so fern
Kind redete und nicht mit einem halbwüchsigen Mann. »Es tut ihm leid. Das weißt du, Alex, oder? Du weißt, dass er am liebsten hier bei dir und deiner Mutter wäre statt dort, wo er sich jetzt befindet.«
Alex schloss die Augen und seufzte erneut.
»Er kann es nicht. Dein Vater kann nicht zurückkommen. Ich auch nicht.« Ich verlor den Faden. Ich hatte ja nicht vor, von mir zu sprechen. Der Junge da im Bett brauchte weiß Gott nicht noch mehr Probleme, mit denen er sich beschäftigen sollte. Ich holte noch einmal tief Luft. »Er liebt dich, auch wenn er nicht hier ist. Er will, dass du glücklich bist. Hörst du das, Alex?« Ich hob die Stimme. »Dein Vater kümmert sich um dich. Ich kenne ihn, und ich weiß, dass das stimmt.«
Alex zuckte. Vermutlich war das nur ein Muskelreflex, doch die Reaktion spornte mich an. »Du bist nicht allein«, sagte ich entschlossen, und in dem Moment, in dem die Worte meine Lippen lautlos verließen, machte ich eine sonderbare Entdeckung. An meinen Fingerspitzen nahm ich einen schwachen Lichtschein wahr, ähnlich dem, den ich gesehen hatte, als Arayan mir sein Licht geliehen hatte. Anfangs dachte ich noch, dass es sich um eine optische Täuschung handele, doch dann veränderte er sich, und ich betrachtete voller Faszination, wie das Licht wellenartig über meine Kontur hinaus pulsierte. Als ich mich darauf konzentrierte, wurde es stärker, als wäre ich plötzlich radioaktiv geworden. Am Ende reichte es einige Zentimeter über meine Hände hinaus, und das Leuchten begann, sich auf meine Arme auszudehnen. Alex hielt noch immer die Augen geschlossen, und darüber war ich sehr froh. Ich wusste nicht, ob man mit dem menschlichen Auge dieses Licht sehen konnte, aber ich hatte noch in Erinnerung, was im Werksaal passiert war und wie sehr sich Alex erschreckt hatte, als der leuchtende Valdemar vor ihm stand. Ich wartete noch eine Weile ab, dann hob ich vorsichtig die eine Hand und strich Alex übers Gesicht. Das Licht erhellte seine weichen Züge, und ganz sanft ließ ich meine Hand seine Stirn berühren. Das Licht von meiner Handfläche floss sofort weiter dorthin, wo kleine Pickelchen die Haut ungleichmäßig und großporig erscheinen ließen. Vielleicht war es nur Einbildung, aber einen Moment lang meinte ich, sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Ich ließ die Hand dort, während ich wieder mit ihm sprach. Doch dieses Mal musste ich nicht nach den Worten suchen.
»Dein Vater liebt dich. Was er dir sagen will, ist, dass du frei bist. Du hast die Wahl, du musst nicht das tun, was er getan hat. Du kannst all das, was er heute so sehr bereut, einfach bleibenlassen. Deine Mutter ist für dich da, Alex. Sie liebt dich auch. Nimm ihre Hilfe an, lass dir in der Schule helfen, lass deine Freunde – deine richtigen Freunde – dir helfen. Hilf dir selbst, Alex.«
Das Licht meiner Hand war von seiner Stirn weitergeflossen. Es hatte sich über Gesicht, Hals und Nacken verteilt. In der Mitte seines Brustkorbs stoppte es und sammelte sich dort wie eine Lache aus funkelndem, sich bewegendem Licht. Ich wagte es nicht, meine Hand zu bewegen. So blieb ich in dieser Stellung sitzen, und das Leuchten dieser Lache begann zu flackern. Es war, als wäre sie zu eigenem Leben erweckt worden, als ob das Licht dem Rhythmus eines unsichtbaren Herzens folgte.
Wie lange ich dort saß, weiß ich nicht mehr, aber Alex schlief, als ich ging. Das Licht war noch auf seiner Brust, doch als ich mich entfernte, wurde es langsam fahler. Ich blieb noch am Bett stehen, bis die letzten Strahlen – wie Spuren eines Feuerwerks am Himmel – aufblinkten und erloschen. Alex atmete tief und gleichmäßig, und auf seinen weichen Lippen lag ein sanftes Lächeln, als ich schließlich den Raum verließ.
»Ist es so weit?«
»Wenn du es spürst.«
Sie war so voller Angst. Man sah es ihr an den Augen an, dass sie wusste, was geschah. Ihr Körper konnte nicht mehr, und ihre Psyche wahrscheinlich auch nicht. Sie lag im Sterben, auch wenn ich mir selbst einredete, dass es doch kaum so ernst sein könne. Als sie mich in der Türöffnung erblickte, rief sie meinen Namen.
»Rebecka!« Sie hob eine verbundene Hand, an der Schläuche hingen, und ich musste den Blick rasch abwenden, weil der Anblick ihrer bleichen Gestalt im Krankenhausbett schockierend war. »Du bist gekommen …« Und schon sank sie wieder nach unten, ihre Kraft ging zur Neige.
Ich stellte einen Blumenstrauß in eine Vase auf den Tisch, wo einige halbvolle
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