Der Himmel so fern
Ich musste mich für ihn zusammenreißen. Also versuchte ich, mit ihm zu reden. Ihm zu sagen, dass ich da war. Dass ich nicht verschwunden war, sondern mich ganz in seiner Nähe befand. Ich schluchzte und beugte mich über ihn, umarmte ihn mit meinem kraftlosen Schatten. Sagte ihm, dass ich ihn liebe. Wie verzweifelt ich meine Tat bereute.
Aber Mikael hörte mich nicht. Er saß dort an die Wand gelehnt mindestens eine Stunde lang, bis seine taumelnden Bewegungen langsam schwächer wurden. Am Ende legte er sich auf den Boden und zog die Knie an, die gleiche Haltung, in der ich kürzlich dagelegen hatte. Er versuchte, sich ganz im Morgenmantel zu verkriechen, doch Füße und Knie schauten noch heraus. Er zitterte, vielleicht lag das am Schock oder an der Kälte. In der Diele war es kühl. Zwar konnte ich keine Kälte empfinden, aber das wusste ich aus Erfahrung. Mikael hatte die Meinung vertreten, eine Fußbodenheizung im Flurbereich sei überflüssig. Es gab nur wenige Dinge in unserer Wohnung, bei denen ich Kompromisse gemacht hatte, der Dielenfußboden gehörte dazu. Als ich dort neben Mikaels fröstelndem Körper hockte, ärgerte ich mich darüber. Am liebsten hätte ich eine Wolldecke geholt und ihm übergelegt, oder wenigstens eine Jacke von der Garderobe heruntergezogen, um seine Füße zuzudecken, aber ich konnte gar nichts ausrichten. Konnte einfach nur dasitzen, neben seinem Kopf, ihm immer wieder sagen, dass ich da war und dass ich ihn niemals verlassen würde.
»Er hat mich nicht gesehen. Nicht einmal gehört. Er lag einfach nur da.«
»Ja, so ist das.«
»Du musst mir helfen, ich halte das nicht aus.«
»Die Trauer eines anderen auszuhalten ist sehr, sehr schwer.«
»Ich muss wieder zurück. Ich meine richtig, verstehst du das nicht?«
»Dabei kann ich dir nicht helfen. Ich kann nur an deiner Seite sein und warten.«
»Worauf?«
»Darauf, dass du das, was geschehen ist, annehmen kannst.«
»Und was meinst du, würde dann passieren?«
»Dann kannst du deinen Frieden finden.«
»Frieden? Wie soll ich meinen Frieden finden? Ich habe doch gerade Mikaels Leben zerstört!«
»Es gibt Frieden fern von allem. Ein Friede, der …«
»Please! Lass’ deine Predigten!«
»Es betrübt mich, dass meine Worte dich jetzt nicht erreichen.«
»Immer diese verständnisvolle Tour. Aber ich sage dir eines: Du kapierst gar nichts! Ich will bei Mikael sein, das würde mir meinen Frieden geben. Sonst nichts. Nichts auf dieser verdammten Welt!«
»Deine Wut ist nachvollziehbar.«
»Bitte, kannst du nicht einfach den Mund halten?«
»Das kann ich.«
»Papa hat dich lieb. Und zwar immer.« Mama sah mich mit rotgeränderten Augen an. Sie versuchte, mich in ihrer Umarmung festzuhalten, doch ich riss mich mit einem Ruck los und blieb ein paar Meter entfernt stehen.
»Und warum wohnt er dann nicht mehr bei uns?«
»Weil er …. Weil er es mit mir nicht mehr ausgehalten hat.«
»Warum denn?«
Mama sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen, die Kraft, die sie aufgebracht hatte, um wenigstens gerade zu sitzen, reichte nun nicht mehr. »Das kann ich dir nicht erklären.«
»Weil du nie den Mund halten kannst, darum ist er fort! Du redest und redest in einem fort, und du meckerst an allem und jedem herum. Papa hält es einfach nicht mehr aus, den ganzen Tag dieses Gezeter!« Ich schrie sie an, doch sie wurde nicht wütend. Machte nur ein trauriges Gesicht. Ob ich sie etwa trösten sollte? Kam nicht in Frage. Das alles war ihre Schuld.
»Ja, wahrscheinlich hast du recht …« Im Aschenbecher auf dem Tisch lag eine halbe Zigarette, vorsichtig ausgelöscht, damit man sie noch zu Ende rauchen kann. In ihrer Tasche fingerte sie nach einem Feuerzeug.
»Warum musst du immer so viel reden? Kannst du nicht einfach still sein, und Papa kommt zurück?«
»Ich wünschte, ich könnte es, aber er will nicht wieder zurückkommen.« Jetzt hatte sie das Feuerzeug gefunden und steckte die Zigarette in den Mund. Der Tabak knisterte, als sie die Luft einsog, damit sich die Glut verteilte. »Es ist zu spät.«
»Das ist deine Schuld!«
»Ja, Rebecka. Es ist meine Schuld.«
»Ich hasse dich.«
»Ich hasse mich auch, aber das nützt nichts.«
Jetzt saß ich da wie ein Häufchen Elend. »Ich vermisse Papa, ich will, dass er wieder nach Hause kommt.«
»Ich auch, Rebecka, aber wir können es nicht mehr ändern. Jetzt müssen wir beide stark sein, du und ich. Schon wegen Sofia.«
Sie war aufgestanden und kam zu mir herüber. Die
Weitere Kostenlose Bücher