Der Himmel so fern
passiert?«
»Sie hat sich das Leben genommen.«
»Nein … Mikael, das …«
»Letzten Donnerstag. Ich konnte einfach nicht früher anrufen. Ich gehe von einem Zimmer zum anderen. Weiß nicht, wo ich hinsoll. Ich vermisse sie so sehr, dass ich kaum atmen kann.«
»Mikael, ich komme sofort zu dir. Ich nehme ein Taxi.«
»Nein, lass’ das. Das brauchst du nicht. Zur Beerdigung kannst du kommen. Hier kannst du sowieso nichts tun.«
»Ich lass’ dich jetzt nicht allein. Ich komme sofort. Bleib’, wo du bist, ich bin so schnell wie möglich da.«
Bleib’, wo du bist
– als ob er vorhätte, irgendwohin zu gehen. Als ob er in seinem Leben jemals wieder irgendwohin gehen würde.
Das kurze Gespräch hatte seine ganze Kraft gekostet, und nun ließ er sich zurück aufs Sofa sinken. Abgesehen von der kurzen Nachricht ans Büro, dass er eine Weile zu Hause bleiben würde, war dies das erste Telefonat gewesen. Seine Mutter war jetzt auf dem Weg zu ihm. Eigentlich hatte er das gar nicht gewollt, doch sie hatte es kurzerhand für beide entschieden, und nun kam er innerlich zur Ruhe und nickte ein. Wieder einmal fiel er in einen unruhigen Kurzschlaf, der weder erholsam war noch ihm eine richtige Pause von dem, was geschehen war, verschaffte. Immer wenn er erwachte, hatte er Rebecka vor Augen, Erinnerungen aus der gemeinsamen Vergangenheit mischten sich mit Phantasien, wie sie hinunterstürzte. Wie sie seinen Namen schrie und mit den Armen ruderte, um den Fall ihres Körpers aufzuhalten. Da war es besser, wach zu sein, zwar hatte er dann dieselben Gedanken, doch wurden die Bilder nicht ganz so deutlich, wenn er die Augen geöffnet hatte. Wenn er gekonnt hätte, wäre er vierundzwanzig Stunden am Tag wach geblieben.
Warum hatte sie das getan? Rebeckas Tod war so schrecklich und so unbegreiflich, dass er bislang nicht die Kraft aufgebracht hatte, sich dieser Frage zu nähern. Sie stand im Raum, unerbittlich wie eine lebensbedrohende Krankheit, die jederzeit ausbrechen konnte. Was passiert war, war eine Wahnsinnstat, doch Rebecka war nicht wahnsinnig gewesen. In ihrem Leben war nichts im Affekt oder zufällig geschehen. Mikael spürte Übelkeit aufkommen, und mit fast übermenschlicher Kraft verdrängte er die Frage wieder. Stattdessen sah er sich im Zimmer um, das große, geräumige Wohnzimmer mit all den hübschen und handverlesenen Gegenständen. Wie leer es jetzt war. Niemals hätte er sich vorstellen können, wie einsam er ohne Rebecka sein würde. Beide waren eingespannt in ihrem Job, besonders sie. Manchmal konnte es passieren, dass sie eine ganze Woche lang keinen Abend miteinander verbringen konnten. Entweder lag es an der Arbeit, an Meetings, an Geschäftsessen, an Verabredungen mit Freunden oder am Sport, irgendetwas war immer wichtiger. Er versuchte, sich in ihren Zeitplan zu integrieren, doch je mehr Raum er ihrer Beziehung verschaffte, desto weniger Zeitfenster öffnete Rebecka. Als sollte alles so bleiben, es gelang ihm nicht, irgendetwas daran zu ändern. Es war schon lange her, dass sie deswegen miteinander gestritten hatten. Das taten sie mittlerweile nicht mehr, aber mitunter nahm er einen Anlauf, mit ihr darüber zu reden. Ihr zu sagen, dass sie die falschen Prioritäten setzten. Absichtlich sagte er »sie beide«, nicht »sie allein«. Er war bereit, die Verantwortung für die Situation, wie sie nun war, zu übernehmen, doch allein konnte er nichts verändern. Sie war nur selten in der Stimmung, sich das anzuhören. Und wies seine Kritik ab mit dem Hinweis, dass er alle Möglichkeiten der Welt habe, die Prioritäten nach seinen Vorstellungen zu setzen, genau wie sie. Und sie war damit zufrieden, so wie es war.
In der Trauer, die ihn nahezu betäubt hatte, merkte er, wie sich ein Gefühl von Wut anbahnte. Wie hatte sie sich damit zufriedengeben können? Hatte nur er gesehen, wie es eigentlich um sie stand? Hatte nur er gezweifelt? Sie konnte manchmal so kalt sein, als ob nichts wirklich wichtig sei. Er hätte sie zwingen müssen, die Karten auf den Tisch zu legen. Sich ihm zu erklären, sich ihrer Beziehung zu stellen. Aber jedes Mal, wenn er den Versuch unternahm, ihre glatte Fassade anzukratzen, machte sie einen Schritt zur Seite, und er fiel kopfüber in die Lücke, wo sie eben noch gestanden hatte. Dann kroch sie neben ihn aufs Sofa oder griff am Küchentisch nach seiner Hand. Wir können doch über Pfingsten irgendwohin fahren, sagte sie. Oder sie schlug vor, die Einladung zum Essen am
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