Der Himmel ueber Dem Boesen
Sam drehte sich mit dem Rücken zum Fenster und zupfte an seinem Island-Pullover. «Ich schätze, das hoffe ich immer noch. Sicher bin ich nicht. Ich habe da eine Freundin, Ingrid Sollars, kennen Sie sie?»
«Ich bin ihr vorhin im Flur begegnet.»
«Ja, klar. Also, Ingrid und ich sind sehr eng befreundet, aber keineswegs immer einer Meinung. Und hier gehen Sachen vor …» Sam schüttelte den Kopf. «Ich weiß auch nicht.»
«Was für Sachen?»
«Kann ich Ingrid dazuholen?»
Merrily sah auf die Uhr. «Ich muss zu Cherry Lodge, und dann habe ich noch etwas anderes zu tun. Kann ich Sie anrufen? Heute Abend?»
«Klar.» Sam begleitete sie zur Tür. «Das Dorf hier ist wirklich sehr seltsam geworden, Mrs. Watkins. Richtig krank.»
Als sie vor dem Bauernhof der Lodges geparkt hatte, rief Merrily vom Auto aus Bliss an und hinterließ ihm eine Nachricht. Dann kam Cherry Lodge in ihrem Armeeparka ums Haus. Sie hatte einen Papiersack mit Futterkorn dabei.
«Haben Sie mit ihnen geredet, Hochwürden?» Sie stellte den Futtersack ab. Ohne den Nebel wirkte das Bauernhaus hinter ihr weniger stattlich, und rohe Mauersteine zeigten sich, wo der Putz abgefallen war.
«Ich komme am besten direkt zur Sache», sagte Merrily. «Sind Sie von irgendjemandem bedroht worden?»
Ein müdes Lächeln erschien auf Cherry Lodges Gesicht. Merrily beschloss, ihr nichts von ihrem eigenen anonymen Anrufer zu erzählen.
«Ich habe gerade gehört, dass ein paar Leute … Freunde von Melanie Pullman … gedroht haben, Roddys Grab zu verwüsten, wenn … wenn es eins gibt.»
«Das sind mir ja mal ein paar richtig mutige Kerle.» Cherry schob den Körnersack an die Hauswand. «Möchten Sie eine Tasse Tee?»
«Nein, danke. Ich muss zurück. Mmh … das andere Argument dagegen ist, dass das Grab die falsche Sorte Touristen anlocken könnte. Aber das hat Ihnen der Ausschuss schon gesagt, oder?»
«Die falsche Sorte Touristen. Oh ja, das haben wir schon gehört.»
«Cherry, in Ihrer E-Mail haben Sie geschrieben, wie sehr sich Roddy verändert hat, nachdem er allein wohnte. Sie haben geschrieben, er hätte mehr Selbstvertrauen entwickelt. Hat er sich auch in anderer Hinsicht verändert? Ich meine … er ist zum Beispiel die ganze Zeit mit einer dunklen Sonnenbrille herumgelaufen. Die Leute sagen, er war eben ein Wichtigtuer. Aber hätte sein Verhalten noch eine andere Ursache haben können? Sam Hall denkt …»
«Sam denkt alles Mögliche, und einiges davon klingt vernünftig, und anderes klingt nach totalem Quatsch, und ich glaube nicht, dass er den Unterschied erkennt. Was spielt das jetzt überhaupt noch für eine Rolle? Roddy hat eine Frau ermordet – nur
eine
Frau, soweit wir wissen, trotz all diesem blödsinnigen Gerede über West –, und dann hat er sich selbst umgebracht. Und wenn er
vorgehabt
hätte, eine Frau umzubringen – aber zitieren Sie das ja nicht –, dann hätte er sich keine bessere aussuchen können. Diese Nutte. Nur aufs Geld aus. Sie ist immer wieder bei ihm angetanzt. Er hat versucht, von ihr loszukommen, sich mit anderen Frauen zu verabreden, aber sie ist immer wieder aufgetaucht. Vielleicht sah er ja keinen anderen Weg mehr, sie endlich loszuwerden.»
«Hören Sie», sagte Merrily. «Ich muss Sie das noch einmal fragen, weil ich die Atmosphäre im Dorf wirklich nicht einschätzen kann. Sie möchten weiterhin eine Beerdigung, oder? Siemöchten keine Einäscherung und vielleicht eine Gedenktafel in der Kirche?»
«Mrs. Watkins …» Auf Cherrys Gesicht hatten sich die Sorgen wegen BSE, Maul-und-Klauen-Seuche und idiotischen E U-Vor schriften in Schichten abgelagert; was kümmerte sie eine kleinkarierte Dorf-Bürgerwehr samt ihrem hausgemachten Katastrophenszenario? «Wenn irgendwer das Grab verwüstet, muss sich die Polizei darum kümmern. Wenn irgendwer uns bedroht, werden
wir
uns darum kümmern.»
«Und Ihnen ist morgen … lieber als Freitag.»
«Wie das klingt. Uns ist weder das eine noch das andere lieber», sagte Cherry Lodge. «Aber wenn wir es so machen müssen, damit die Ruhe gewahrt bleibt, dann machen wir es eben.»
«Und was ist mit Blumen und solchen Sachen? Haben Sie das alles schon vorbereitet?»
«Blumen für Roddy? Ich glaube nicht, dass das passt.»
Merrily nickte. «Sie haben ja meine Telefonnummer, für alle Fälle.»
«Geben Sie nicht zu viel auf das, was Sam so erzählt», sagte Cherry. «Und suchen Sie nicht nach Entschuldigungen für Roddy –
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