Der Himmel über der Heide (German Edition)
Kopf über sich selbst. Dorothee liebte ihren Vater, auch wenn sie es nach außen nicht zeigen konnte. In dieser traurigen Situation würde sie nicht einfach davonlaufen.
Leise betrat sie das Zimmer und ermahnte sich, jetzt ganz für ihren Vater da zu sein und sich nicht länger so albernen Gedankenspielchen hinzugeben. Als sie sich dem Bett näherte, spürte Kati, wie aufgeregt sie war. Ob er sie wohl erkennen würde?
Abgesehen von der nun fehlenden Atemmaske sah ihr Vater genauso aus, wie an den Tagen zuvor. Seine Haut war blass, die Wangen eingefallen, und er schien in einer ganz anderen Welt zu sein. Er wachte nicht auf, als Kati ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Stirn gab.
«Hallo, Papa!», flüsterte sie und zog sich einen Stuhl heran.
Sie überlegte, wie sie die Zeit bis zu seinem Erwachen am besten überbrücken konnte. Zunächst vergewisserte sie sich jedoch, dass ihr Handy im Zimmer auch Empfang hatte, aber leise gestellt war. Falls Dorothee ihre Mailbox abhören und zurückrufen würde, wollte sie den Anruf auf keinen Fall verpassen.
Kati lehnte sich auf dem Stuhl zurück und seufzte.
Welche Schicksale hatten sich in diesem Raum wohl schon abgespielt? Durch die Isolierfenster hörte sie einen Hubschrauber auf dem Krankenhausgelände landen. Ob es irgendwo einen Unfall gegeben hatte? Es musste schrecklich sein, als Arzt um das Leben anderer Menschen zu kämpfen.
Als das gedämpfte Brummen endlich verstummte, war nur noch das immerwährende Piepen des Überwachungsgerätes zu hören.
Sie selbst hatte außer bei ihrer Geburt noch nie im Krankenhaus gelegen. Damals waren sie und ihre Schwester, wie es bei Zwillingen durchaus nicht unüblich ist, etwas zu früh auf die Welt gekommen. Die Ärzte hatten sie längere Zeit dabehalten, bis sich die beiden zarten Babys an das selbständige Atmen gewöhnt hatten.
Kati musste an das Foto denken, das in ihrem Album klebte. Stolz hielten ihre Eltern darauf je eine von ihnen in den Armen. Ihre Mutter war damals so jung gewesen, viel jünger als sie heute. Und wenn Kati daran dachte, dass sie kaum länger gelebt hatte, als sie bislang … Sie nahm die Hand ihres Vaters. Ob ihre Mutter wohl auch so an Hinrichs Krankenbett gesessen hätte wie Kati gerade? Sie musste lächeln und streichelte seine Hand.
Eigentlich konnte sie sich kaum an ihre Mutter erinnern und wusste viel zu wenig von ihr. Allein durch die lebendigen Erzählungen ihrer Großmutter hatte Kati auch als Kind immer das Gefühl gehabt, der Mutter ganz nah zu sein. Elli hatte Annette sehr geschätzt und sprach immer von einer besonderen Sanftheit, die ihre erste Schwiegertochter gehabt habe. Kati wusste zwar nie genau, was ihre Großmutter damit meinte, aber auch sie verband ein unbestimmtes Gefühl von Wärme und Geborgenheit mit ihrer Mutter.
Elli hatte häufig betont, wie ähnlich Kati ihrer Mutter sah. Und dass sie ihr im Gegensatz zu Jule auch vom Wesen her ähnelte. Natürlich hatte Kati das stets sehr gerührt, weil sie es als großes Kompliment empfand. Doch gleichzeitig entwickelte sie ihrer Schwester gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil Jule ein viel extrovertierterer und launischerer Mensch gewesen war.
Sie schluckte und betrachtete das Gesicht ihres Vaters, das noch immer keine Regung zeigte. Er war so ein humorvoller, lebenslustiger Mann! Das konnte man auf den ersten Blick erkennen: seine Lachfalten, die seitlich der Augen jeweils in gleichmäßigen Abständen in Richtung Schläfe verliefen. Aber auch sein Mund, der selbst im Schlaf zu einem fast schelmischen Lächeln verzogen war. Seine grauen Haare waren von ein paar dunklen Sprenkeln unterbrochen und noch immer recht voll. Und doch sah er älter aus als ein Mann Anfang sechzig. Die zahlreichen Schicksalsschläge in seinem Leben hatten ihre Spuren hinterlassen. Genauso wie die 60-Stunden-Wochen, das stressige Saisongeschäft sowie die Sorgen um den Erhalt des Heidehofes, die er so gut verbergen konnte.
«Du … brauchst dir wirklich keine Gedanken zu machen, Paps. Wir kommen schon irgendwie klar.»
Kati fand es seltsam, mit ihrem Vater zu sprechen, obwohl der sie vermutlich nicht hören konnte. Oder sollten Angehörige nicht sogar zu Komapatienten sprechen?
«Wir haben einen Aushilfskoch eingestellt, stell dir vor», fuhr sie etwas selbstbewusster fort. «Er kocht bestimmt nicht so gut wie du, ist ja klar. Aber er findet deine Rezepte toll. Und er entlastet Oma und bringt uns zum Lachen! Du wirst ihn mögen, wenn
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