Der Himmel über Kasakstan
Amtsstuben vom Eismeer bis zum Schwarzen Meer, von der polnischen Grenze bis zum Kap Deschnew. Was hatte sich schon geändert, Genossen?
Stalin war verdammt worden … man hatte es vorausgesehen.
Die Politik gegen den Westen wurde mal weicher, mal härter – man hatte es auch gewußt.
Man schoß die Hündin Laika in den Weltraum und eroberte den Weltruhm, als erster einen künstlichen Stern zu haben – man hatte es nicht anders erwartet, denn der Sowjetmensch ist der jahrhundertealte Träger der schöpferischen Intelligenz. So schrieben es seit Jahr und Tag die Prawda und Istwestija und der Komsomolza-Iljußtraza.
Etwas Neues, Brüderchen? Njet!
Wir sind nur dabei, Lenin zu übertreffen, und überrunden den dekadenten Westen.
Auch für Boris und Erna-Svetlana ging dieses Leben voran, als sei es gar nicht anders denkbar. Das einzige, was sie erschütterte, war der Tod Andreij Boborykins. Es war im Jahre 1957, mitten in seinen Sümpfen, wo er weiterhin gelebt hatte wie ein uralter Wasserbiber.
Eines Morgens war er auf Fischfang gegangen. Als er nach den ausgelegten Reusen suchte und sie aus dem Schilf zog, schnellte eine Otter vor und biß ihn in die Hand. Boborykin lachte laut, nahm die Otter hinter dem Kopf, trug sie zu einem Stein und zertrümmerte ihr das Gehirn. Dann nahm er sein Messer, erweiterte die Bißwunde und saugte das Blut ab, das er in weitem Bogen in den Sumpf spie.
Zwei Tage später kam er nach Judomskoje. Der Arm war dick aufgequollen, blaurot und steif. Stöhnend vor Schmerzen schwankte Boborykin zu dem neuen, jungen Distriktsarzt, der im Hause Natascha Trimofas wohnte.
»Dieses Aas«, röchelte er. »Oh, dieses Aas! Schneid den Arm ab, Doktor, sonst ist es zu spät!«
Es war zu spät. In der Nacht starb Boborykin schreiend vor Schmerzen an einer Sepsis, die niemand mehr aufhalten konnte.
Boris und Svetlana standen an seiner Holzpritsche im Arzthaus, als er mit fiebrigen Augen hinter einem Wald von Haaren noch einmal aufschaute und Svetlana ansah.
»Rosanja …«, sagte er schwach (Röschen). Dann streckte er sich und hieb mit beiden Fäusten noch einmal auf das Holz der Pritsche, als kämpfe er bis zum letzten Schlage mit dem Tod.
Sogar Konjew und Tschetwergow, der in diesen Jahren sehr gealtert war und aussah wie ein tatarischer Greis, waren bei dem Begräbnis dabei.
Eingenäht in seinen Bärenpelz, mit seinem Gewehr auf der Brust, wurde Boborykin in seinen geliebten Sumpf versenkt. Fast ehrfurchtsvoll sahen sie zu, wie der schwere Körper tiefer und tiefer sank, wie der widerliche, grünbraune Brei des Moores den Leib Boborykins aufsaugte und sich dann die Sumpfdecke schloß, leise gluckernd, als stoße ein riesiges Tier satt und zufrieden auf.
»Das schöne Gewehr«, sagte Konjew halblaut. Tschetwergow erwachte wie aus einer Verzauberung.
»Sie haben keinerlei Seele, Genosse«, sagte er tadelnd. »Wenn man sieht, wie ein Mensch der Natur zurückgegeben wird …« Er räusperte sich. »So vergehen wir einmal alle, Brüder …«
Konjew schwieg. An so etwas erinnert zu werden, erzeugte bei ihm Magenschmerzen.
*
Im Frühjahr 1958 wurde der Geburtstag eines neuen Mädchens auf der Datscha gefeiert. Svetlana hatte durchgesetzt, daß es Natascha hieß.
»Natascha Trimofa wollte uns retten und starb dafür«, sagte sie gleich nach der Geburt zu Boris. »Wir wollen das nie vergessen und immer daran denken, wenn wir unsere Natascha rufen. Was wären wir jetzt ohne sie?«
Ilja Sergejewitsch Konjew machte ein kritisches Gesicht, als Boris damit zu ihm kam.
»Du bist rehabilitiert, Genosse«, sagte er. »Aber Natascha gilt immer noch als Reaktionärin und Feind des Sowjetvolkes! Keiner hat sie rehabilitiert, denn sie konnte sich ja nicht mehr verteidigen! Nenne das Mädchen Axinia oder Marfa … aber Natascha würde ich es nicht nennen.«
»Es laufen Hunderttausende Nataschas in Rußland herum«, rief Boris. Konjew nickte mehrmals weise.
»Die Verbindung des Namens mit euch ist es, Genosse, was mich nachdenklich macht. Wenn nebenan der gute Piotr eine Tochter bekommt und sie Natascha nennt, ist alles gut. Aber du … wir müssen alles vermeiden, was nach Provokation riecht.«
»Ist das nicht ein wenig übertriebene Vorsicht?«
»Man kann nichts übertreiben, Genosse. Auch die Vorsicht nicht. Denk an die Maus, die vor der Katze in ihr Loch flüchtete und dort von einer Schlange gefressen wurde.«
Aber die Beredsamkeit Konjews half nichts. Erna-Svetlana bestand auf den Namen
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