Der Himmel über New York (German Edition)
mal die Schlangen da drüben.«
Wo sie recht haben, haben sie recht. Bis hier kann man die endlosen Menschenmengen sehen, die sich auf dem vorgelagerten Inselchen vor der Dame mit der Fackel drängeln.
»Ich würde sagen, wir kommen besser zu einer anderen Tageszeit wieder«, schlägt ein junger Mann mit I love New York -T-Shirt vor, »und machen jetzt erst mal Ground Zero. Ist ja nicht weit von hier.«
»Och nee!«, regt sich die Frau auf. »Das ist doch total deprimierend, Ground Zero. All die armen Menschen, die da gestorben sind bei dem Attentat mit den Flugzeugen.«
»Aber das wäre total praktisch«, rechnet der Mann mit dem New-York-Shirt vor, »weil die Broadway-Matinee und den Central Park und das Wachsfigurenkabinett schaffen wir nicht an einem Tag. Wenn wir jetzt Ground Zero machen und danach die Wachsfiguren, können wir morgen den Rest erledigen.«
»Ich höre immer nur ›Ground Zero machen‹«, sagt das Mädchen spitz. »Das ist doch total pervers.«
»Das ist nicht pervers«, belehrt ihr Vater sie, »das gehört auch dazu. Irgendwie.«
»Was gibt es denn da eigentlich zu sehen?«
»Weiß auch nicht. Irgendeine Gedenkstätte, nehme ich an. Hast du noch mal den Reiseführer, Karin?«
»Und wenn wir erst Karten besorgen für diese Show mit den Transvestiten in Greenwich Village und dann …«
Ich habe genug gehört. Plötzlich habe ich das ganz dringende Bedürfnis, sehr weit weg von diesen Leuten zu kommen. Weg von den Fährschiffen und den langen Schlangen. Nicht, dass noch jemand denkt, ich hätte etwas zu tun mit denen. Das sind Touristen. Und ich, ich lebe hier. LEBE. In Großbuchstaben.
Und das auch noch, so viel muss man Queens lassen, in einer total untouristischen Gegend.
Langsam schlendere ich durch die Grünanlage, weg vom Ufer, während der New Yorker Straßenlärm, das aufgeregte Jaulen der Polizeisirenen, das penetrante Hupen der Taxifahrer zu einer immer lauteren Symphonie anschwillt. Ich weiß noch nicht so richtig, wohin ich gehen soll, bleibe unschlüssig an einer Ampel mit dem blinkenden Don’t walk! -Schriftzug stehen, während um mich herum eilige Menschen in Anzügen und mit Scheuklappenblick in letzter Minute über die Straße hasten, in Richtung Wall Street, und auf einmal sehe ich aus den Augenwinkeln etwas und erschrecke.
Es ist eine seltsame Form des Schreckens, Freude und Panik zugleich, den ich nicht nur im Magen spüre und im Herzen, sondern der wie ein Stromschlag durch meinen ganzen Körper führt, am Ellenbogen Funken schlägt und in den Kniekehlen.
Schräg vor mir an der Ampel steht der Fahrradkurier, den Anne fast überfahren hätte.
Wenn so etwas passiert, wenn man zufällig in einer Millionenstadt einen Menschen wiedertrifft, der einem nicht mehr aus dem Kopf geht – muss das nicht zwangsläufig etwas bedeuten?
Er hält sein Fahrrad lässig mit zwei Fingern am Lenker, in der anderen Hand trägt er einen Stapel kleiner Papierchen. Postkarten oder Flyer, ich kann es von hier aus nicht erkennen. Als die Ampel wieder auf walk umspringt, schiebt er los, und ich denke nicht lange nach und hefte mich an seine Fersen. Nur mal sehen, wo so einer hingeht. In diesem Moment weiß ich nur eines: Diesen Typen will ich nicht mehr so schnell aus den Augen lassen.
Alles andere kann ich mir später überlegen.
Jetzt, da ich direkt hinter ihm gehe, kann ich sehen, wie groß er wirklich ist. Zwei Meter, oder wenigstens fast. Wieder trägt er seinen orangefarbenen Fahrradkurier-Rucksack. Auf meiner Augenhöhe ist die Freiheitsstatue darauf abgedruckt, die mit wehendem Gewand in die Pedale tritt. Die schon wieder! Ihre Fackel lodert im Fahrtwind. Liberty License – we speed up your life, steht in fetten Buchstaben darunter. Über die Ohren hat der Typ ein Paar Kopfhörer gestülpt, so groß wie Kinderfäustlinge. Er wiegt beim Gehen seine Hüften im Takt, tanzt nach seinem eigenen Rhythmus. Was für ein hübscher Arsch, denke ich, und während ich das denke, habe ich das Gefühl, mich zu verhaspeln. Obwohl ich nicht laut spreche. Habe ich wirklich »Arsch« gedacht, so wie ein Mann es denken würde, der auf der Straße einer Frau hinterherstarrt?
New York macht merkwürdige Dinge mit mir.
Kurz vor der Brooklyn Bridge, zwischen einem Videoladen und einem baufälligen Haus, bleibt er stehen, lehnt sein Fahrrad an die Wand und sichert es mit einem dicken Metallschloss. Dann zieht er sich die Kopfhörer von den Ohren und legt sich den biegsamen Steg um den Hals.
Ob
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