Der Himmel über New York (German Edition)
er einen seiner Zettel an. Den kleinen Stapel lässt er auf dem länglichen Tisch direkt vor der Glasfront liegen.
Dann stößt er mit der Sohle seines Turnschuhs die gläserne Schwingtür auf. Und geht. Ohne sich noch einmal umzudrehen.
Mechanisch ziehe ich den Plastikdeckel von meinem Kaffeebecher ab. Tunke meine Oberlippe in den lauwarmen Schaum ein, bis sie auf die heiße Flüssigkeit darunter trifft.
Es gibt noch Hoffnung. Eine letzte Hoffnung, dass dies hier nicht unsere letzte Begegnung war.
Warten. Manchmal hilft das. Manchmal bringt das Glück. Ich sage mir: Wenn du es schaffst, hier stehen zu bleiben und den Kaffee auszutrinken, bevor du den Zettel am Schwarzen Brett liest, dann wirst du diesen Mann wiedersehen.
Wie damals, als ich …
Mist. Warum muss ich ausgerechnet jetzt an Max denken? An Max, an damals vor zwei Jahren, als wir uns gerade kennengelernt hatten und ich immerzu auf seinen Anruf wartete.
Mein Ritual war so simpel wie wirkungsvoll: Ich schaltete stundenlang mein Handy aus und zwang mich, andere Dinge zu tun. Fingernägel feilen. Schulhefte sortieren. Bloß nicht ins Internet, bloß nicht nachsehen, ob eine Mail von ihm angekommen war, ein neuer Beitrag auf Facebook. Einmal mistete ich sogar freiwillig den Werkzeugkasten meines Vaters aus. Und wurde belohnt. Als ich danach mein Handy wieder einschaltete, hatte ich gleich zwei Nachrichten von Max bekommen.
Ach, Max.
Lieber Max.
Denke ich. Und verbrenne mir die Zunge.
Ich halte es einfach nicht mehr aus.
Mit dem halb vollen Becher in der Hand laufe ich zur Eingangstür und studiere mit klopfendem Herzen, was auf dem Flyer steht, den Mr Strawberry Frappuccino dort hinterlassen hat. Als wäre es eine geheime Nachricht, deren Inhalt nur für mich bestimmt ist.
Tongues on fire . Brennende Zungen? Weiter im Text: Poetry Slam & Open Mike.
Ein Poetry Slam also. Die gibt es auch in Freiburg. Germanistikstudentinnen mit großen Brillen lesen lange Liebesgedichte vor, dünne Jungs in Cordhosen Kurzgeschichten, in denen es meistens um Drogen geht. Das Publikum vergibt Punkte, der Gewinner bekommt eine Flasche Whisky. Mal sehen, ob es in Amerika genauso ist. Kann man sich ja mal anschauen.
Oder, Max?
June 19 th , 9 p.m., Poets’ Bar . Schwarze Schrift auf rotem Papier.
Noch sieben Tage und fünf Stunden.
Seltsam, dass mir gerade jetzt dieser Sonntag im Schwimmbad einfällt. Ein Sonntag mit Max, einer der ersten. Es war im Winter. Max lief am Rand des Tauchbeckens vor mir her. Seine Hände hielt er gegen seine Schenkel gepresst. Er trug eine bunte Badehose, die nie modisch gewesen war und es auch nie sein würde, und er lief, als hätte er seine Pobacken zusammengekniffen. Vielleicht war es ihm peinlich, dass ich ihn so sah. Wir kannten uns seit zwei Wochen, hatten uns aber noch nicht voreinander ausgezogen. Vor diesem Tag hatte ich nur einmal seine Brust unter dem Wollpullover ertastet, aber er hatte ihn nicht ausgezogen und ich hatte mich so verrenkt, dass mir meine rechte Schulter zwei Tage lang wehtat. Ein anderes Mal hatten wir nebeneinander auf seinem Bett gelegen und uns gegenseitig die T-Shirts aus dem Bund gezogen. Seine Bauchhaare kitzelten meinen Nabel, die Haut darunter war ganz warm. Ich hätte ewig so liegen bleiben können. In dem Moment war ich vollkommen glücklich.
Es gefiel mir, dass er so schüchtern war. Und es gefiel mir, wie selbstverständlich er zu mir stand. Drei Tage nachdem wir uns zum ersten Mal geküsst hatten, stellte er mich seinen Freunden vor. Nicht dieses Gequatsche von Freiheit, keine dieser ängstlichen Ausflüchte. Manche Jungen benahmen sich, als sei es eine Art Eheversprechen, ein Mädchen vor anderen Augen an der Hand zu halten. Max nicht.
Er nannte mich von Anfang an »mein Schatz« und mir wurde zum ersten Mal klar, was dieses Wort bedeutet. Ich fühlte mich wertvoll und entdeckenswert. Ich probierte nackt vor dem Spiegel Körperhaltungen aus, war mir fremd und fand mich schön: meine ungeschminkten Lippen und meine kleinen Brustwarzen in der gleichen Farbe, meine langen geraden Zehen, die ich noch nie beachtet hatte.
Und dann stand ich an diesem Sonntag im Schwimmbad und mochte Max gar nicht so sehen. Natürlich hatte ich mich gefragt, wie sein Körper nackt aussah, wie dunkel die Haare waren, nach denen ich getastet hatte. Aber ich wollte ihn bei Kerzenschein auf meinem Sofa, nicht im bläulichen Licht eines Schwimmbads. Ich fühlte mich wie ein Kind, das aus Versehen ein nicht
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