Der Himmel über New York (German Edition)
in meinem Alter mit Lebensentscheidungen beschäftigt. So etwas zu erraten, ist kein Kunststück.
Vielleicht muss ich sie doch gezielter fragen.
»Geht es dabei um Liebe? Oder darum, was ich aus meinem Leben machen soll?«
Madame Lucy fuchtelt mit der linken Hand, als wollte sie eine Fliege verscheuchen.
»Warte, noch nicht. Du kannst Fragen stellen, wenn die Sitzung vorbei ist.«
Sie zieht noch drei Mal. Sie tut es mechanisch, als würde sie Strümpfe im Wäschekorb sortieren. Lässt mich die erste Karte davon umdrehen. Die Hohepriesterin.
Ich kenne Tarotkarten. Früher habe ich sie an verregneten Sonntagnachmittagen mit meiner Mutter gelegt. Als sie noch alles über mich wissen durfte. Das muss mindestens fünf Jahre her sein.
Madame Lucy benutzt allerdings ein anderes Blatt mit anderen Zeichnungen. Die Hohepriesterin in diesem Kartenset erinnert mich an die Mutter aus der Talkshow. Die so unglücklich war über die Tochter, die sie nicht liebt.
»Diese hier steht für eine Figur, die in deinem Leben wichtig sein wird. Eine Frau. Wahrscheinlich weißt du noch nicht, dass sie dich beeinflussen wird. Du möchtest ihr entgehen. Aber ob du willst oder nicht, du wirst etwas von ihr lernen.«
Ich lehne mich zurück und verschränke die Finger im Schoß. Die fünf Dollar hätte ich lieber in einen Bagel mit Thunfischsalat investieren sollen.
»Die Hohepriesterin bedeutet noch etwas anderes. Menschen sind nicht, was sie scheinen. Du glaubst, du weißt, was in ihren Köpfen vorgeht. Aber du kennst nicht einmal die, die dir nah sind.«
Gleich muss ich gähnen. Das ist so erhellend wie Sinnsprüche auf Zuckertütchen.
Sie dreht die letzten Karten um. Ein Wagenlenker mit Brustpanzer, der seine Pferde zügelt. Und ein Clown, der am Abgrund tänzelt, eine Blume in der Hand.
»Dein Leben steht am Scheideweg. Es gibt zwei Richtungen. Die der Kontrolle, der Sicherheit. Und die der Hingabe. An einen Menschen, an eine Sache, an eine Überzeugung. Wie auch immer du dich entscheidest, du wirst es ganz tun und deinen Weg mit Leidenschaft gehen. Zwei sehr mächtige Karten sind in deinem Blatt.«
Jetzt bin ich doch beeindruckt. Zwei Sätze, und sie hat meine englischen Lieblingswörter darin gebraucht. Wörter wie Musik. Surrender. Passion .
»Kann ich jetzt Fragen stellen?«
Sie nickt. Im Zimmer hinter uns beginnt ein Baby zu schreien. Madame Lucy springt auf und kommt rasch mit dem sabbernden Säugling zurück. Wie selbstverständlich entblößt sie eine riesige dunkelrote Brustwarze und schiebt sie zwischen die Lippen des Kindes.
»Bitte«, sagt sie, »go ahead.«
Aber dann entdecke ich plötzlich den kleinen Wulst unter ihrem T-Shirt, wo der Still-BH in die Haut einschneidet. Und von dem Moment an kann ich beim besten Willen nicht mehr daran glauben, dass sie besondere Fähigkeiten hat. Ein Medium im Mutterschaftsurlaub, das sich zwischen zwei Stillmahlzeiten etwas dazuverdient.
Vielleicht ist es ja tatsächlich vorherbestimmt, ob ich auf einer Theaterbühne oder in einer Kanzlei lande. Und ob zwischen Leroy und mir noch etwas passiert oder ob ich irgendwann Max heirate. Aber selbst wenn, dann ist Madame Lucy die letzte Person, die darüber Bescheid weiß.
Ich schüttle den Kopf, lege das Geld auf den Bistrotisch und bedanke mich. Jetzt wird sie geschäftstüchtig: Bietet mir einen der Kristalle an, den ich jeden Abend 15 Minuten über meinem Nabel kreisen lassen sollte, um mein inneres Gleichgewicht zu finden – 30 Dollar. Ein Ölfläschchen mit Vanillearoma: 35,50 Dollar. Eine Zeremonie, mit der ich geheilt und gereinigt werde: 750 Dollar. Ich verabschiede mich eilig und stolpere auf die Straße. Tageslicht blendet mich.
Als sich meine Pupillen an die Helligkeit gewöhnt haben, fällt mir die Auslage eines Zeitungskiosks ins Auge. Direkt vor dem Sichtfenster, hinter dem ein untersetzter, schnurrbärtiger Verkäufer vor sich hin schwitzt, liegt ein Stapel druckfrischer Stadtzeitschriften. New York’s complete entertainment guide , das ist genau das, was ich brauche. Erst als ich nach dem Heft greife, bemerke ich die Titelzeile. Jobs, jobs, jobs: How to survive in the city .
Da war doch was.
Plötzlich habe ich wieder meinen Vater vor Augen, wie er seine Fingernägel in den geriffelten Stiel des Weinglases bohrt. Vielleicht wird dir in New York klarer, was du mit deinem Leben machen willst . Und was mache ich? Ich denke nur darüber nach, wie sich wohl Leroys Rückenmuskeln unter meinen Händen anfühlen
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