Der Himmel über New York (German Edition)
Überwurf und ein schwarz lackierter Garderobenständer voller Hüte. Breitkrempige, lilafarbene, eine Baskenmütze, ein ausladender Sombrero mit einem Stoffband. Neben dem Garderobenständer steht ein hölzerner Schreibtisch, auf dem ein Stapel Briefe liegt und ein Buch mit dem Titel »New York Poetry«. Das war es wohl, was Anne mir geben wollte.
Als ich es aufschlage, springen mich ein paar Zeilen an. I’m over the bridge now, I’m on the other shore now, I’ve reached the other side. Ein Gedicht von Allen Ginsberg über die Brooklyn Bridge. Gleich an ihrem einen Ende liegt der Coffeeshop, in dem ich zum ersten Mal ein paar Worte mit Leroy gewechselt habe.
Na, toll. Ich suche schon wieder nach Zeichen. Als wüsste ich es nicht besser.
Ich sehe mich weiter um, obwohl ich ahne, dass dieses Zimmer nicht für meine Augen bestimmt ist. Aber ich kann es einfach nicht lassen, meine Neugier ist zu groß. An den Wänden hängen gelbstichige Farbfotos. Die Motive sind zum Verwechseln ähnlich: Eine Frau und ein Mann sitzen mal im Gras und spielen Gitarre, mal halten sie sich über einen Kneipentisch hinweg an den Händen. Auf einem Bild winken sie aus den Fenstern eines alten VW-Busses. Der Mann trägt seine dichten rotblonden Locken im Afro-Look. Die Frau hätte ich nicht erkannt, wenn sie nicht auf dem Gitarrenfoto einen roten Batikrock angehabt hätte.
Es ist Anne.
Anne, so wie mein Vater sie beschrieben hat. Und wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie muss etwa so alt sein wie ich jetzt. Und sie sieht mir ein bisschen ähnlich auf den Fotos. Ganz ehrlich muss ich zugeben: Sie ist hübscher als ich. Es ist die Haut, die sie zerbrechlich aussehen lässt. Aristokratisch. Auf einem der Bilder schimmert eine bläuliche Ader an ihrer Schläfe. Ich kann mir vorstellen, dass sie den Mann mit dieser Stelle ganz verrückt gemacht hat. Wenn ich sie das nächste Mal sehe, werde ich auf ihre Stirn achten.
Die muss in ihrer Jugend eine ganz heiße Nummer gewesen sein. Mit halb Manhattan soll die rumgemacht haben , fällt mir Connys Erzählung ein. Aber auf den Bildern ist immer derselbe Mann zu sehen. Wie sie ihn anschaut! Sie liebt ihn, das sieht man auf den ersten Blick. Vielleicht weiß mein Vater mehr über ihn. Ob das der ist, über den die beiden sich zwischen New York und San Francisco unterhalten haben? Eine traurige Geschichte im Bus?
Das alles hier ist so intim wie ein fremdes Tagebuch. Ich schäme mich. Will gehen. Und kann dennoch nicht den Blick abwenden. Nur ein Foto noch, das größte im Raum, auf der Innenseite der Tür.
Auch diese Aufnahme muss über zwanzig Jahre alt sein, das Papier ist an den Ecken gewellt. Es ist eine Porträtaufnahme von Anne. Sie steht mit erhobenem Kopf auf einem Mäuerchen. Das Abendlicht schimmert durch ihr Haar. Den rechten Arm hat sie über den Kopf erhoben wie die Freiheitsstatue. In der Hand hält sie eine Sonnenblume. Quer über das Bild steht etwas in einer steilen Männerhandschrift geschrieben, aber die Buchstaben sind ausgeblichen. Ich gehe so nah an das Bild heran, dass ich die Einkerbungen des Kugelschreibers erkennen kann. So kann ich es lesen.
I love you, Lady Liberty .
»Hallo, Mami!«
»Da hab ich wohl Glück gehabt. Du hast ja dauernd dein Handy ausgeschaltet zurzeit!«
»Hm, ja. Der Akku macht nicht mehr so richtig mit.«
»So? Ich dachte, Papa hat dir ein neues Gerät gekauft!«
»Mama, weißt du, es passt gerade nicht so gut. Ich bin auf dem Sprung. Eine Dichterlesung in einem Park.«
»Du und Dichterlesung? Entdeckst du deine poetische Ader?«
Nicht einmal das hätte ich sagen sollen. Jedes Wort kann mich verraten. Dabei habe ich noch nicht einmal ein Geheimnis.
Aber ich hätte so gerne eins.
»Und, alles klar bei dir?« Gott sei Dank, sie hat von selbst das Thema gewechselt. Ich begutachte mich im Spiegel. Stecke einen Finger in meinen Nabel.
»Geht so. Ich habe immer noch Krach mit Anne.«
»Sie möchte, dass du ihr sagst, wo du dich rumtreibst.« Die Stimme meiner Mutter klingt plötzlich scharf.
»Wie meinst du das, ›rumtreiben‹?«
»Dein Vater hat gestern mit ihr telefoniert.«
Damit hätte ich rechnen können. Trotzdem fühlt es sich an wie eine Faust in den Magen. Sie reden hinter meinem Rücken. Reden über mich wie über ein schwer erziehbares Kind. Die Erwachsenen.
Und ich dachte, ich bin eine von ihnen.
»So, sie hat sich also über mich beschwert. Oder erzählt, dass sie mich rauswerfen will. Das meint sie nicht
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