Der Himmel über New York (German Edition)
Ist ganz leicht, mich zu ignorieren. Wenn man nur eine Minute fährt.«
»Ganz schön clever.«
»Hey, Betteln ist mein Job. Hat mich ein paar beschissene Jahre gekostet, bis ich gelernt habe, worauf es ankommt. Hätte sich mein alter Herr auch nicht träumen lassen, dass ich irgendwann auf diese Weise meine Brötchen verdienen muss. Junge, hat er immer zu mir gesagt, aus dir wird noch mal was. Du hast einen Blick für Geschäfte, das liegt dir im Blut, das liegt in der Familie. Hat er gesagt.«
Leroy fischt die Aluschale heraus und beugt sich über den zerzausten Schopf.
»Besteck hab ich keins dabei. Aber es schmeckt wie im Restaurant.«
Leroy richtet sich auf und nimmt meine Hand. Ich blicke dem Bettler in die geröteten Augen.
»Ist das dein Mädchen?«, fragt er und gestikuliert mit dem flachen Päckchen in meine Richtung. Leroy sieht mich an, nickt, küsst mich wieder.
»God bless you two!« Der Mann grinst, schnäuzt sich in seinen Ärmel und zupft dann mit dreckigen Fingernägeln den Deckel von der Aluschale. Ehe er zu essen beginnt, hebt er eine Hand, als wollte er uns tatsächlich segnen.
Leroy schiebt sein Fahrrad mit rechts, die linke Hand hat er um meine Taille gelegt und dirigiert mich durch die Menge. Ich laufe wie aufgezogen, vorbei an grünen Straßenschildern und Neonleuchten, Eimern mit Blumensträußen unter Markisen, heruntergezogenen Rollos. An manchen der Backsteinfassaden sind noch verblichene Buchstaben zu entziffern, die für Holzkohle, Obst und Gemüse, Fleisch und Wurst werben. Die Geschäfte dazu gibt es schon lange nicht mehr. Eine Stadt wie ein Bild, immer und immer wieder übermalt, mit dicken Farbschichten, die hier und dort ihre Risse zeigen. Irgendwann schlappt eine verloren aussehende Kleingruppe von New-York-Touristen mit identischen blauen Baseballkappen an uns vorbei. Sie zögern einen Moment, als sie uns sehen, als würden sie überlegen, die Gehsteigseite zu wechseln.
»Schau mal.« Leroy grinst. »Wenn ich wollte, könnte ich denen Angst machen.«
»Tu’s nicht«, sage ich und denke: Ich will nie wieder in meinem Leben irgendeinen bösen Gedanken über Touristengruppen hegen, ich schwör’s. Ohne die wäre ich heute nicht hier. Ohne die hätte ich Leroy niemals wiedergesehen, nach unserer ersten Begegnung.
Hätte, würde, könnte. Wenn man so über sein Leben nachdenkt, kann es einem ganz schön schwindlig werden.
Die Luft hat sich abgekühlt. Ein leichter Wind weht. Die Haut an meinen Oberarmen fühlt sich transparent an, als ginge die Brise durch mich durch, körperwarm und angenehm. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind. Ich könnte ewig weiterlaufen, seine Hand auf meiner Hüfte und den Luftzug an meinen Schultern. Irgendwo werden wir schon ankommen. Schließlich ist die Welt rund.
Notfalls nehmen wir die Südroute.
Der Augenblick ist so schön, ich möchte ihn am liebsten mit Fixierspray einnebeln, in Formalin einlegen, ewig haltbar machen.
»Jenny?« Er bleibt so abrupt stehen, dass ich einen Schritt rückwärtsgehen muss.
Ich sehe mich um. Der verwilderte Garten und das Gebäude mit der Treppe unter der Eingangstür kommen mir bekannt vor. Hinter den Fenstern von Leroys Wohnung brennt kein Licht.
»Was ist?«, frage ich überflüssigerweise.
Leroy lässt seine Finger über meinen Rücken wandern.
»Komm mit.«
»Zu dir?«
»Nach Hause.«
Nach Hause. Diesmal klingt das Wort richtig.
Wir haben kein Licht angemacht. Wir liegen nebeneinander auf einem breiten Futon. Seit Stunden – Tagen? Sekunden? – liegen wir auf dem Rücken und fassen uns nicht an. Im Liegen passt Leroys Körper noch besser zu meinem. Endlich überragt er mich nicht mehr um fast zwei Köpfe. Wir können uns in die Augen sehen, ohne dass ich meinen Hals verrenken muss. Dafür könnte ich meine Füße in seinen Kniekehlen verstecken.
Seine Haut ist wärmer als meine. Als hätte sie die Sonne gespeichert. Ich weiß, dass er weiß: Wir haben Zeit. Alle Zeit der Welt.
Scheinwerferlichter wandern über die Decke.
Ich schiebe meine Hand unter den Saum meines Shirts. Von draußen klingt gedämpfter Straßenlärm. Er wird nicht weniger, auch nicht mitten in der Nacht. Aber im Zimmer ist es still genug, um meine Fingerkuppen hören zu können. Wie sie meinen Nabel streicheln, ihn umkreisen, sich in ihn hineinbohren.
»Was machst du?«, fragt Leroy.
»Gar nichts.«
Wieder ist es still. Bis auf das Geräusch einer Jeansnaht, die sich an meinem Knie reibt.
»Und was machst du
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