Der Himmel über New York (German Edition)
Zeitschriften, stritten uns, ob die Germanistik- oder die BWL-Studenten besser aussahen, schlossen Wetten ab, ob wir sie an der Marke ihrer Schuhe erkennen würden. Wenn wir keine Lust mehr auf Schule hatten, schrieben wir uns Entschuldigungen auf karierten DIN-A5-Blättern. Kopfweh, grippaler Infekt, Wurzelbehandlung. Paula bekam ihren Kaffee immer aufs Haus, natürlich kannte sie alle Barmänner. Manchmal gaben sie mir auch ein Getränk aus.
Es fühlt sich an, als wäre das alles sehr, sehr lange her.
Jetzt sitze ich an einem abgerockten Tresen mitten in Manhattan, nur eine kleine Tasche dabei mit allem, was ich noch brauchen könnte heute Nacht: ein paar Schminkstifte, die angebrochene Pillenpackung und ein Aspirin. Es ist ein Gefühl wie auf der Flucht. Aber ein gutes. Ich wünschte, Paula könnte mich so sehen.
Die Wände meines Glases sind beschlagen. Wenn ich es schräg halte, spiegelt sich alles in der Lache auf dem Boden: die Blätter der Grünpflanze auf dem Fensterbrett, mein Gesicht (mit Doppelkinn, wenn ich nach unten schaue). Und die Buchstaben eines Konzertflyers, spiegelverkehrt. In der Mitte steht das Datum. June 23rd . Heute. Ich merke mir das Datum schon jetzt. Der erste Tag meines neuen Lebens. Ab heute mache ich die Regeln selbst.
Ab heute werde ich nach Hause kommen, wann es mir passt, schlafen, wo es mir passt und mit wem es mir passt. Heute Nacht werde ich Sex mit Leroy haben, das ist so gut wie sicher. In meinem Kopf läuft ein Film in Endlosschleife und ich kann ihn gar nicht stoppen, selbst wenn ich wollte.
Die Jahre mit Max waren nur eine Generalprobe. Damit der Körper im Ernstfall Bescheid weiß, wie das funktioniert mit einem anderen. Und sich nicht mehr darauf konzentrieren muss, alles richtig zu machen, sondern auf Autopilot schalten und genießen kann. Das erste Mal mit dem zweiten Mann ist ein guter Grund, sich zu freuen. Es kann nur schöner werden.
Paula hat recht. Das Leben ist zu kurz, um sich zu begnügen. Ich weiß, ich muss es Max sagen. Aber nicht heute. Nicht an diesem Tag. Der gehört mir. Der soll bleiben wie ein Geschenk in Glanzpapier, ohne Kratzer, ohne Schmutzflecken.
Und dann ist da plötzlich wieder dieses fiese Flüstermännchen in meinem Kopf. Krabbelt ganz tief in meiner Ohrmuschel herum und säuselt mit falscher Freundlichkeit:
Und was ist, wenn Leroy gar nicht kommt?
Jetzt wage ich nicht mehr, zur Uhr zu schauen.
Vielleicht hat er es sich anders überlegt. Vielleicht gefalle ich ihm doch nicht. Oder vielleicht gefallen ihm zu viele. Vielleicht ja doch Lydia, so ganz unverbindlich, wenn ihr Freund wieder fort ist und die nächste Zimmertür nah. Vielleicht eine ganz andere. Wie ist das mit Slam-Poeten, haben die nicht genauso ihre Groupies wie Musiker? Bin ich vielleicht genau das: ein exotisches Groupie aus Europa, eine weitere Kerbe in einer Bettkante?
Ich muss mich zwingen, auf meine Armbanduhr zu sehen. Sieben Minuten nach zehn. Ich werde noch fünf Minuten warten und keine Sekunde länger. Dann gehe ich. Falls er vorher doch noch kommt, hab ich … Ich meine, dann hat er Glück gehabt.
Aber dann werde ich reinen Tisch machen. Sofort. Als Allererstes werde ich ihn fragen, ob er mir nicht noch etwas zu sagen hat. Wie das eigentlich ist mit anderen Frauen und was er sich eigentlich erlaubt, mich …
Ein Schatten fällt in mein Glas.
Langsam, ganz langsam hebe ich den Blick und wage nicht zu atmen. Ich fühle mich, als wäre ich in letzter Sekunde vor einer Hinrichtung begnadigt worden. Mindestens.
Leroys weißes T-Shirt klebt auf seiner Brust und unter den Achseln. Seine Bauchmuskeln heben und senken sich rasch wie die Flanken eines Hundes, der ein Tier gejagt hat. Tief hängen seine Jeans auf der Hüfte.
»Hast du dich so beeilt?«, frage ich und schäme mich sofort. Nicht für meine Frage, aber für den Ton. Ich klinge ungefähr so erleichtert, als hätte ich soeben erfahren, dass Leroy als Einziger einen Flugzeugabsturz überlebt hat.
So viel zu deinem ausgeklügelten Plan, flüstert das fiese Männchen im Innenohr, aber jetzt ist es mir egal, jetzt kann es lästern, so lange es will.
»Persönlicher Rekord. Kurierfahren sollte olympische Disziplin werden«, keucht Leroy.
Er hebt seinen Arm und wischt sich mit dem T-Shirt-Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Dann beugt er sich über mich und ich frage mich, ob er mich küssen will. Im Bruchteil einer Sekunde entscheide ich, dass ich ihm lieber die Wange hinhalte. Nichts ist peinlicher
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