Der Himmel über New York (German Edition)
keine Rolle. Vielleicht schickt der Herr im Weißen Haus nicht mehr so viele amerikanische Soldaten auf unmögliche Feldzüge, angeblich im Namen der Freiheit. Aber der wahre Krieg findet sowieso in den Köpfen der Menschen statt. Und der geht immer weiter. Die ganze Stadt, das ganze Land ist paranoid. Sieht überall Gespenster. Angeblich war das mal weniger schlimm, vor dem Attentat vom 11. September. Aber so ganz glauben kann ich das nicht. Solche Amokläufe von Polizisten gab’s schon früher. Schon mal von Amadou Diallo gehört?«
Eingeschüchtert schüttle ich den Kopf.
»Februar 99. Zwei Jahre vor nine/eleven . Unschuldiger Straßenverkäufer, der politisches Asyl in den USA beantragt hatte. Sah angeblich aus wie ein gesuchter Serienvergewaltiger. Weißt du, wie viele Schüsse auf den abgefeuert wurden? Einundvierzig! Dagegen war Ricks Tod der reinste Kindergeburtstag.«
Die Worte sind schneller da, als ich sie überdenken kann. »Wenn das alles wahr ist, wenn diese Stadt so grausam ist, wenn es so viel Unrecht gibt um dich herum – warum schreibst du dann Gedichte?«
Er sieht mich lange an und lässt die Hand mit dem Papierkügelchen sinken. Dann, nach einer halben Ewigkeit, lächelt er.
»Du meinst, ich sollte lieber da rausgehen und Ricks Mörder umlegen?«
»Nein, nicht so. Ich meine, in die Politik gehen. Oder das, was du neulich gesagt hast. Rechtsanwalt werden. Oder …«
»Jeder kämpft an seiner Stelle und mit seinen Mitteln«, sagt er leise. »Und außerdem brauchte ich dazu erst mal einen Highschool-Abschluss.«
»Und den hast du nicht?«
Leroy lächelt bitter. »Baby, ich bin vielleicht nicht in der South Bronx aufgewachsen. Aber eine Sozialwohnung in Brooklyn, das ist auch nicht gerade der Stall, aus dem der nächste Kandidat für den Obersten Gerichtshof kommt.«
Dann legt er seine große, warme Hand auf mein Bein. Und dann geht alles sehr schnell.
Es hat etwas seltsam Verzweifeltes, wie dieses Mal unsere Körper ineinanderstürzen, als wollten sie sich aneinander festhalten wie zwei Kinder im Dunkeln. Als könnten wir damit den Abgrund überbrücken, der sich zwischen uns auftut und der viel tiefer geht, als ich geahnt habe. Schließlich, als Leroy schwer atmend auf mir liegen bleibt, kommen mir die Tränen. Ich weine über einen Jungen mit grün blinkenden Schuhen, der nicht älter werden durfte als fünfzehn Jahre. Weine über einen anderen Jungen mit Regalen voller altmodischer Langspielplatten, der mich mehr liebt, als ich bis heute geahnt habe. Und über mich und Leroy, denn wie sollen wir je wirklich zueinanderfinden, zwei Wesen von verschiedenen Sternen?
Und dann sieht Leroy mich an, mit so viel Liebe, dass ich gleich noch mehr weinen muss, und küsst meine Tränen aus den Augenwinkeln, küsst die ganze Spur über meine Wangen bis zu den Mundwinkeln, und sagt: »Wir zwei haben noch etwas Wichtiges zu erledigen.«
Noch später, sehr viel später, bürste ich die Härchen an seinen Waden gegen den Strich, während er den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt hat und mit beiden Händen meinen Nacken krault.
»Jenny Ritter, R-I-T-T-E-R. Nein, natürlich bin nicht ich das, das ist meine Freundin. Es geht um eine Umbuchung, sie will vier Wochen später zurück, New York– Frankfurt. Warteliste? Wie stehen denn die Chancen, wenn Sie den Namen auf die Warteliste setzen? Eins zu eins, das ist doch besser als nichts. Ich gebe Ihnen meine Telefonnummer und Sie rufen an, sobald Sie die Bestätigung haben?«
Leroys Finger haben Pause. Jetzt ist sein Mund an der Reihe. Dieser Mund, der gar nicht sprechen muss und trotzdem die schönsten Liebeserklärungen von sich gibt, nur mit der weichen Innenseite seiner Lippen unter meinem Schlüsselbein.
17.
A n diesen Tagen sieht es aus, als hätte sich New York neu eingekleidet, in Rot, Blau und Weiß. Überall Sterne, Streifen, Uncle Sam. Die Stadt macht sich schön für den bevorstehenden Nationalfeiertag. Den Unabhängigkeitstag.
Ich schlendere durch die Straßen, denke wieder an Rick, und frage mich, woher er kommt, dieser ungebrochene Stolz auf ein Land, auf eine so grausame Stadt, die doch gleichzeitig so schön ist. Happy 4 th of July!, steht in Schreibschrift auf einem goldenen Banner im Feinkostladen gegenüber.
Ich schlendere durch die Straßen und bleibe am Wühltisch einer Boutique stehen. T-Shirts, Socken und Tangaslips, auch die in den amerikanischen Nationalfarben. Eine dicke Frau steht bereits davor, zieht
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