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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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in die Leere. »Wo sollen wir denn hin?«, fragte sie.
    »Ganz weit weg«, sagte Yunus. »Irgendwohin, wo es schön ist. Wir zwei. Wollen wir gehen?«
    Güldane schwieg.
    »Kommst du mit?«, fragte Yunus.
    Da sah sie ihn an und lachte. Nicht nur mit ihren schönen roten Lippen, auch mit ihren Augen, ihren Wimpern, dem Rand ihrer Nase, ihren Händen, ihren Schultern, ihrem Bauch lachte sie.
    »Warum lachst du denn so?«, fragte Yunus.
    »Weiß ich nicht«, sagte Güldane, dann wurde sie ernst. »Lass uns gehen«, sagte sie, »wenn du es willst, dann gehen wir eben weg von hier.«

    Von diesem Tag an suchte Halil in jedem Spiegel nach Güldane. In dem Spiegel an der Tür des alten Kleiderschranks, in dem Badezimmerspiegel, in dem Spiegel in der Vitrine des Möbelhändlers an der Straßenecke, in der Spiegelverglasung des Gebäudes gegenüber der Taxihaltestelle, in dem Spiegel des Friseurs, wo er sich die Haare schneiden ließ, sogar in den Spiegeln in seinen Träumen suchte er den Widerschein Güldanes, die am Ende der schönsten Nacht seines Lebens, gegen Morgen, in einem ovalen Spiegel aus Messing mit Gravuren an den Rändern verschwand.
    Oft stellte er sich vor, dass er Güldanes Haus aufsucht, sie an sich drückt … nein, Güldanes Haus aufsucht, sie am Arm packt und ins Auto zerrt … Güldanes Haus aufsucht, sich ihr zu Füßen wirft und sie anfleht … sie an ihren Haaren über den Boden schleift und …
    Jede der Möglichkeiten war unmöglicher als die andere. Doch konnte er dieses kleine Zigeunermädchen keinen Augenblick aus seinem Kopf jagen. Das war die Wahrheit. Vielleicht die einzige Wahrheit, der er sich sicher war.
    An einem dunklen, diesigen, verregneten Tag, gerade, als er von Beşiktaş in den Barbaros-Boulevard einbiegen wollte, hielt ihn eine junge Frau mit einem Schirm an. Sie stieg wortlos ein und Halil fuhr, ohne etwas zu fragen, den Boulevard hinauf. Sie waren fast oben angelangt, als ihm auffiel, dass sie die Adresse noch nicht genannt hatte. Er schaute in den Rückspiegel, wollte sich nach der Richtung erkundigen, und begegnete dem Anblick, nach dem er seit Tagen auf der Suche war.
    »Was machst du denn hier?«, fragte Halil. Weil er sich dabei auch erschrocken umdrehte, wäre er fast in einen anderen Wagen hineingefahren. Ein Gehupe schwoll an. Halil brach kalter Schweiß aus; um Verzeihung bittend hob er die Hand zu dem Fahrer des soeben von ihm bedrängten Autos.
    Halils Unsicherheit belustigte Güldane, sie lächelte spöttisch.
    »Nach Sarıyer«, sagte sie. »Wir fahren nach Sarıyer.«
    Dann wandte sie sich zur Seite und fing an, durch das Seitenfenster die Umgebung zu betrachten.
    Halil hatte den ersten Schock überwunden und versuchte, eine vernünftige Erklärung für diese Situation zu finden. Bis sie in Zincirlikuyu ankamen, mied er jeden Blick in den Rückspiegel. Vielleicht hatte er auch nur geträumt. Vielleicht saß niemand auf der Rückbank. Von hinten hörte man ja auch gar nichts. Ja, natürlich, er musste geträumt haben. Wie konnte es sein, dass Güldane in diesem riesigen Istanbul, wo es so viele Taxis gab wie Sand am Meer, ausgerechnet Halils Wagen gefunden hatte? Gleich würde er nach hinten schauen und feststellen, dass niemand da war. Vor Müdigkeit und Anspannung hatte er angefangen, am helllichten Tag zu träumen. Klar, er hatte tagaus tagein an das Mädchen gedacht, das hatte er jetzt davon.
    Trotzdem brachte er den Mut nicht auf, sich umzudrehen. Er fuhr weiter in Richtung Sarıyer. Mit der Hand wischte er sich einige Schweißtropfen von der Stirn. Er beschleunigte und bremste. Er hielt und fuhr wieder an. Im Wagen war kein Laut zu vernehmen. Schließlich fasste er einen Entschluss. Wenn sie in Levent angekommen waren, wollte er in den Spiegel schauen und herausfinden, ob er geträumt hatte oder nicht.
    Um sich davon zu überzeugen, alles sei völlig normal, schaltete er das Radio ein. Ein trauriges Volkslied erfüllte den Wagen. Halil klammerte sich an dieses Lied.
    Aber, dummer Zufall, die Straßen waren frei. Er war im Handumdrehen in Levent angekommen. Nun nahm Halil seinen ganzen Mut zusammen. Er fuhr auf die rechte Spur und drosselte sein Tempo, hob den Blick und sah in den Rückspiegel. Dort, im linken Rand des Spiegels wog Güldane im Takt der Musik den Kopf und schaute dabei immer noch hinaus. Um ganz sicher zu gehen, drehte er sich halb nach hinten um. Ja, sie war dort. Überaus gegenwärtig, unleugbar leibhaftig saß sie mit ihrer ganzen Anmut, ihrem

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