Der Hinterhalt
wurde. Trotzdem war ich erleichtert zu wissen, dass der Australier für die nächsten anderthalb Stunden nur meinen Hinterkopf anstarren würde. Möglicherweise erinnerte er sich noch vom Vortag an mein Gesicht, doch das würde ihm von seiner Warte nichts nützen.
Ich beobachtete die Studenten um mich herum und imitierte ihr Verhalten. Als sie ihre Notizbücher hervorholten, tat ich dasselbe. Nachdem alle in ihre Taschen gegriffen hatten und das kollektive Geraschel der Studentenschaft wieder abgeklungen war, begann meine Zielperson mit der Vorlesung. Er trug ein kleines Mikrofon um den Hals, das dafür sorgte, dass man seine Stimme deutlich hören konnte, ganz egal, wo im Hörsaal man saß. Bei der Veranstaltung handelte es sich um einen Chemiekurs für das zweite Studienjahr mit dem Titel »Drogen und Erkrankungen«.
»Toxikologie«, begann er, »Toxikologie ist ein Fachgebiet, das jeder Einzelne von uns tagtäglich praktiziert. Genau genommen sollte ich es nicht so einschränken – es ist ein Fachgebiet, das alle Ihre Angehörigen, alle Ihre Nachbarn, fast jeder auf diesem Kontinent und die meisten Menschen auf diesem Planeten tagtäglich praktizieren. Ja, auch Ihr ungebildeter, arbeitsloser Onkel.« Aus den Reihen der Studenten waren etliche Lacher zu hören. »Tatsächlich praktiziert es dieser Onkel, je nachdem, wie viel Zeit er jeden Tag in seiner Stammkneipe verbringt, womöglich sogar am meisten.« Wieder gedämpftes Lachen. »Ganz egal, was wir tun, wir evaluieren ständig, was wir unserem Körper zuführen, seien es Medikamente, Drogen, alkoholische Getränke oder auch Nahrungsmittel. Warum? Weil wir wissen, dass die verkehrte Menge, die verkehrte Dosis, toxische Wirkung haben kann, und diese toxische Wirkung kann wiederum unzählige verschiedene Folgen haben. Von Euphorie bis hin zu unerträglichen Schmerzen; von vollständiger, aber behaglicher Benommenheit bis hin zu schwerer Krankheit; von Bewusstseinserweiterung bis hin zum Tod.«
Er fuhr fort. Meine Kommilitonen folgten ihm, tippten auf ihre Tastaturen ein und schrieben wie wild in ihre Notizbücher. Es dauerte nicht lange, bis mir das Ganze zu wissenschaftlich wurde. Da ich Probleme hatte, der Vorlesung zu folgen, beobachtete ich einfach meine Zielperson, um herauszufinden, wie der Mann sich bewegte, welche Haltung er einnahm, ob er irgendwelche Angewohnheiten hatte, die ich möglicherweise zu meinem Vorteil würde nutzen können. Bislang hatte ich den Leibwächtern mehr Aufmerksamkeit geschenkt als ihm selbst. Jetzt, in meiner Verkleidung, konnte ich mich jedoch zurücklehnen und den Mann beobachten, der bereits für so viele Tode verantwortlich war.
Er trug abermals einen perfekt geschnittenen dunklen Anzug. Obwohl er nicht groß war, benahm er sich, als wäre er der größte Mann im Raum. Seine Bewegungen waren flüssig und elegant. Beim Sprechen hielt er eine Hand meistens seitlich, die andere legte er aufs Pult. Er passte seine Stimme der Vorlesung an. Manchmal sprach er lauter, hielt die Hände etwa schulterbreit auseinander und ballte sie zur Betonung zu Fäusten. Wenn er wirklich Aufmerksamkeit wollte, senkte er dagegen die Stimme, bis sie kaum noch lauter als ein Flüstern war, stand regungslos da und hielt jede Silbe einen Takt länger. In diesen Momenten lauschten ihm die Studenten mit gespannter Aufmerksamkeit. Dann wurde es in dem großen Hörsaal so still, dass ich eine Nadel hätte fallen hören. Die Bodyguards hätten sie ebenfalls gehört, auch wenn den Studenten das Geräusch vermutlich entgangen wäre. Unter anderen Umständen hätte er der Welt womöglich eine Menge bieten können. Vielleicht wäre es einem seiner Studenten, die an seinen Lippen hingen, eines Tages gelungen, Krebs zu heilen. In gewisser Weise war es fast schade, dass ich ihn töten musste. Doch er wusste über den Krieg Bescheid und hieß ihn trotzdem gut. Er wusste über die Folgen seines Handelns Bescheid. Er würde niemandem außer sich selbst die Schuld für seinen Tod geben können.
Die Vorlesung endete mit irgendwelchen Unannehmlichkeiten im Zusammenhang mit einer Prüfung, und anschließend strömten die Studenten wieder aus dem Hörsaal hinaus. Ich schloss mich an, ging mit gesenktem Kopf mit allen anderen mit und achtete darauf, dass der große Australier mein Gesicht nicht zu sehen bekam.
Da der Korridor überfüllt war, folgte ich einfach der fließenden Menge. Als ich zu einer kleinen Treppe kam, blickte ich mich kurz um. Ich sah, wie meine
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