Der Hintermann
bisschen Ähnlichkeit damit, eine Frau zu lieben. Man tat es am besten langsam und mit viel Aufmerksamkeit für Details und machte zwischendurch Erholungs- und Erfrischungspausen. Aber wenn der Restaurator mit dem Werk vertraut war, konnte die Arbeit notfalls auch außergewöhnlich schnell durchgeführt werden – mit ungefähr dem gleichen Ergebnis.
An die folgenden zehn Tage konnte Gabriel sich später kaum erinnern, sie waren ein einziges so gut wie schlafloses Wirrwarr aus Leinen, Lösungsmitteln, Malmittel und Pigmenten zu Puccinis Musik im gleißend hellen Licht der Halogenlampen. Zum Glück erwiesen seine anfänglichen Befürchtungen in Bezug auf den Zustand des Gemäldes sich als übertrieben. Als die Leinwand neu aufgezogen und von dem vergilbten Firnis gereinigt war, zeigte sich, dass Tizians Werk bis auf ein paar Abschürfungen, wo die Leinwand sich an dem alten Keilrahmen gerieben hatte, und einige abgeplatzte Stellen weitgehend intakt war. Weil er schon früher einige Tizians restauriert hatte, konnte er das Gemälde fast so schnell reparieren, wie der Meister es ursprünglich gemalt hatte. Seine Palette war Tizians Palette, und seine Pinselführung war die des großen Malers. Nur die Verhältnisse in seinem Atelier waren andere. Tizian war zweifellos von begabten Schülern und Gehilfen umgeben gewesen, während Gabriel nur Julian Isherwood hatte, was bedeutete, dass er überhaupt keinen Helfer hatte.
Er trug keine Armbanduhr, weil er gar nicht wissen wollte, wie früh oder spät es war, und wenn er schlief, was selten war, lag er auf einem Feldbett in einer Ecke des Raums unter einer leuchtenden Landschaft von Claude Lorrain. Er trank eimerweise Kaffee von Costa und lebte hauptsächlich von Butterkeksen und Teebiskuits, die Isherwood ihm von Fortnum & Mason mitbrachte. Weil er keine Zeit mit Rasieren vergeuden wollte, ließ er sich den Bart stehen und erschrak darüber, wie viel grauer er im Vergleich zum letzten Mal nachwuchs. Isherwood sagte, mit dem Bart sehe er vor der Staffelei stehend wie Tizian persönlich aus. In Bezug auf Gabriels unglaublich einfühlsame Pinselführung war das nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt.
An seinem letzten Abend in London schaute Gabriel im Thames House, der MI5-Zentrale an der Themse, vorbei, um Graham Seymour wie versprochen darüber zu informieren, dass ihr Unternehmen sich nun auch auf Großbritannien erstreckte. Seymour war schlecht gelaunt und in Gedanken sichtlich woanders. Der Sohn des Thronfolgers hatte beschlossen, im Frühjahr zu heiraten, und Seymour und seine Kollegen beim Metropolitan Police Service würden dafür sorgen müssen, dass es keine Störungen gab. Während Seymour seine missliche Lage beklagte, musste Gabriel daran denken, was Sarah im Garten des Cafés in Georgetown gesagt hatte: London ist wegen seiner vielen Muslime gefährdet. London kann jederzeit angegriffen werden.
Wie zur Bestätigung dieser Lage war die Jubilee Line der U-Bahn auf dem Höhepunkt des abendlichen Berufsverkehrs wegen eines verdächtigen Pakets gesperrt worden, als Gabriel das Thames House verließ. Also ging er zu Fuß zum Mason’s Yard zurück, wo er den restaurierten Tizian, von Isherwood aufmerksam beobachtet, mit einer frischen Firnisschicht überzog. Am folgenden Morgen bat er Nadia, zweihundert Millionen Dollar an die TransArabian Bank zu überweisen. Dann fuhr er mit dem Taxi zum Flughafen Heathrow hinaus.
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Z ÜRICH
Nur wenige Staaten hatten in Gabriel Allons Leben und Karriere eine prominentere Rolle gespielt als die Schweizerische Eidgenossenschaft. Er sprach drei ihrer vier Sprachen fließend und kannte ihre Berge und Täler wie seine Hosentasche. Er hatte in der Schweiz gemordet, war in der Schweiz entführt worden und hatte einige ihrer unappetitlichsten Geheimnisse aufgedeckt. Erst vor einem Jahr hatte er sich in einem Café am Fuß der Gebirgsgruppe Les Diablerets feierlich geschworen, niemals mehr einen Fuß in dieses Land zu setzen. Eigentlich komisch, dass nie etwas genau nach Plan zu verlaufen schien.
Am Steuer eines gemieteten Audis passierte er die nüchternen Fassaden der Banken und Geschäfte in der Bahnhofstrasse und bog dann auf die belebte Straße am Westufer des Zürichsees ab. Das Haus stand drei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Ein moderner Bau, der für Gabriels Geschmack zu viele Fenster hatte und dessen kleiner T-förmiger Carport mit Neuschnee überzuckert war. Als er das Haus betrat, hörte er jemanden ein
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