Der Historiker
Nachdenklich starrte er mich an, und ich spürte, wie ich unter seinem Blick zusammenschrumpfte. »Haben Sie irgendeine Idee, wo Sie sind?«
Ich hatte gehofft, nicht mit ihm sprechen zu müssen, dachte aber, dass es wenig Sinn hatte, einfach zu schweigen, wodurch ich ihn in Wut versetzen mochte, auch wenn er im Moment ausgesprochen ruhig wirkte. Zudem war mir plötzlich der Gedanke gekommen, dass ich mir womöglich etwas Zeit verschaffen könnte, wenn ich ihm antwortete und ihn irgendwie ins Gespräch verwickelte, Zeit, um die Umgebung nach einer Fluchtmöglichkeit abzusuchen oder einer Waffe, mit der ich ihn zerstören konnte, wenn ich die Kraft und die Nerven dazu aufbrachte. Es musste Nacht sein, sonst wäre er nicht wach, wenn ich der Legende Glauben schenken wollte. Irgendwann musste der Morgen kommen, und wenn ich dann noch lebte, würde er schlafen müssen, während ich wach blieb.
»Haben Sie irgendeine Idee, wo Sie sind?«, wiederholte er geradezu geduldig.
»Ja«, sagte ich. Ich konnte mich nicht dazu bringen, ihn mit einem Titel anzureden. »Wenigstens glaube ich es. Das hier ist Ihr Grab.«
»Eines von vielen.« Er lächelte. »Und zwar mein Lieblingsgrab. «
»Sind wir in der Walachei?« Ich konnte nicht anders, ich musste ihn das fragen.
Er schüttelte den Kopf, so dass das Licht über sein dunkles Haar und die hellen Augen strich. Seine Bewegung hatte etwas so Unmenschliches, dass sich mein Magen schmerzhaft zusammenzog. Er bewegte sich nicht wie ein Mensch, und doch hätte ich nicht sagen können, worin der Unterschied bestand. »Die Walachei wurde zu gefährlich. Man hätte mir dort eine Ruhestätte für die Ewigkeit gewähren sollen, aber das war ganz und gar unmöglich. Stellen Sie sich vor, nach all den Kämpfen um meinen Thron, für unsere Freiheit, gab es dort nicht einmal einen Platz für meine Knochen.«
»Wo sind wir dann?« Wieder versuchte ich vergeblich, so zu tun, als handelte es sich um eine normale Unterhaltung, und mir wurde bewusst, dass ich die Nacht gar nicht unbedingt schnell und sicher verstreichen sehen wollte – wenn das denn überhaupt im Bereich des Möglichen lag. Ich wollte auch mehr über Dracula erfahren. Was für ein Wesen er war, schließlich lebte er jetzt seit fünfhundert Jahren. Seine Antworten würden natürlich mit mir sterben, aber das nahm mir nicht meine drängende Neugier.
»Ah, wo sind wir?«, wiederholte Dracula. »Ich glaube nicht, dass das wichtig ist. In der Walachei sind wir jedenfalls nicht, die immer noch von Narren regiert wird. «
Ich starrte ihn an. » Wissen Sie… wissen Sie über die moderne Welt Bescheid?«
Er sah mich so überrascht wie amüsiert an und verzog dabei sein schreckliches Gesicht. Zum ersten Mal sah ich seine langen Zähne, das zurückgehende Zahnfleisch, was ihm das Aussehen eines Hundes gab, wenn er lächelte. Aber die Vision war so schnell vorbei, wie sie gekommen war. Nein, sein Mund war normal, abgesehen von dem kleinen Flecken Blut, meinem oder dem eines anderen, unter dem dunklen Schnurrbart. ›Ja‹, sagte er, und eine Sekunde lang fürchtete ich, dass ich ihn lachen hören müsste. »Ich kenne die Welt von heute. Sie ist meine Belohnung, mein Lieblingsgegenstand. «
Ich hatte das Gefühl, dass ein Frontalangriff in meinem besten Interesse liegen konnte, wenn er damit nur tiefer in unser Gespräch verwickelt wurde. »Was wollen Sie dann von mir? Seit vielen Jahren schon meide ich die Gegenwart. Im Gegensatz zu Ihnen lebe ich in der Vergangenheit.«
»Oh, die Vergangenheit.« Im Licht der Kerzen legte er die Fingerspitzen aneinander. »Die Vergangenheit ist sehr nützlich, aber nur, wenn sie uns etwas über die Gegenwart lehrt. Die Gegenwart ist ein reiches Ding. Aber ich mag auch die Vergangenheit. Kommen Sie. Warum soll ich es Ihnen nicht zeigen, nachdem Sie gegessen und sich ausgeruht haben?« Er erhob sich wieder mit dieser Bewegung, die von einer anderen Macht bestimmt zu sein schien und nicht von den Gliedern seines Körpers. Schnell stand auch ich auf, weil ich fürchtete, dass das alles eine Finte sein und er auf mich losstürzen könnte. Aber er drehte sich langsam um, nahm eine große Kerze vom Ständer neben seinem Stuhl und hielt sie in die Höhe. »Nehmen Sie auch ein Licht mit«, sagte er und bewegte sich vom Kamin weg ins Dunkel des großen Raumes. Ich nahm eine Kerze und folgte ihm, hielt mich dabei aber von seiner seltsamen Kleidung und seinen Furcht einflößenden Bewegungen fern. Ich hoffte,
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