Der Hochzeitsvertrag
legte ihre Silbergabel quer über das bunte Blumenmuster in der Mitte ihres Tellers, lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. "Das bin ich schon lange nicht mehr."
Als er nichts erwiderte, sah sie ihn an. "In ihren Augen bin ich eine gottlose, nichtswürdige, schamlose Sünderin, mit der eine rechtschaffene Frau besser nichts zu tun haben sollte. Ihr Urteil ist gefällt. Und sie lässt sich auch dadurch nicht beirren, dass ich nun einen tadellosen Lebenswandel führe."
"Wegen des Kusses?" riet er.
"Ja." Zornig blitzten ihre Augen auf.
Nicholas war betroffen. "Du weißt, wer an meinem Verschwinden schuld war, Emily! Ja, unser öffentlicher Auftritt war töricht und verantwortungslos. Und das Ergebnis absehbar. Aber glaube mir, ich bedauere es sehr."
"Warum? Du hast bekommen, was du wolltest, und dir macht ja niemand einen Vorwurf. Selbst wenn du hier geblieben wärst – mein Vater hätte dich wegen des Kusses nicht zur Rechenschaft ziehen können."
"Ich hatte doch gar keine Wahl, als zu gehen. Du weißt, wer daran die Schuld trägt."
Wollte ihr Nicholas zu verstehen geben, dass sie an dem Vorfall auch eine Verantwortung trug? Emily musste zugeben, dass sie froh über seinen Gunstbeweis gewesen war. Hatte sie in ihrer Verliebtheit seine Absicht falsch gedeutet? Vielleicht hatte er sie nur geküsst, weil er dachte, sie wollte es. Womöglich hatte er sogar befürchtet, sie erwartete, dass er ihren guten Namen trotzdem schützen würde. Oder gab es einen anderen Grund, weshalb er Bournesea so überstürzt verlassen hatte? Er sagte, sie wisse, wer an seinem Verschwinden schuld sei. Wen sonst als sie konnte er meinen?
"Nun gut, ich glaube, mir ist klar, was du mir sagen willst", erwiderte Emily leise.
"Wirklich?" fragte er. Er bot ihr keinen Trost an.
Nicht, dass er dazu verpflichtet war. Emily hatte immer schon befürchtet, dass alles nur ein Missverständnis ihrerseits gewesen war. Dass sie erwartete, von ihm geheiratet zu werden, hatte er gewiss angenommen. Auch wenn ihr Vater nicht darauf bestanden hätte. Kein Wunder, dass er geglaubt hatte, er müsse sofort aus England verschwinden!
"Würdest du mich bitte entschuldigen?" Emily erhob sich, mühsam die Tränen zurückhaltend.
"Aber natürlich", meinte er und stand sofort auf. "Emily, warte. Du siehst so bleich aus. Du bist doch nicht etwa krank?"
Sie schüttelte den Kopf und würdigte ihn keines Blicks. "Nein. Aber ich habe nicht sehr gut geschlafen."
"Dann geh nur, und ruh dich aus." Er sah auf das weiß emaillierte Zifferblatt der Uhr über der Kommode. "Komm in die Bibliothek, wenn dir danach ist. Sonst bringe ich den Tee nach oben und leiste dir Gesellschaft. Ganz wie du möchtest."
Emily nickte ihm kurz zu, eilte hinaus und die Treppe hinauf zum Gang im zweiten Stock, an dessen Ende sich die Gemächer von Nicholas' Mutter befanden. Tränen der Erniedrigung und der Verzweiflung hatten sie schon auf dem Weg übermannt, und sie begann, hemmungslos zu schluchzen, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Sie warf sich auf das Bett und barg das Gesicht in den Kissen. All die Jahre hatte sie Nicholas deswegen gehasst, weil er sie zum Gespött der Leute gemacht hatte, obwohl sie selbst die Schuld daran trug, dass er sie verlassen hatte! Er hatte England verlassen. Dies hatte ihn davor bewahrt, sie heiraten zu müssen, eine Frau, die er nicht liebte. Doch jetzt, kaum dass er zurückgekehrt war, hatte ihre jüngste Torheit ihn zu einem Schritt gezwungen, dessentwegen er sie hassen musste. Und trotzdem hatte er sie geheiratet.
"Er ist so großmütig", sagte sie weinend in die Kissen, "wie ich niemals sein werde. Das kann nicht gut gehen. Wie schrecklich!"
Nie zuvor hatte sie ihren Gefühlen so freien Lauf gelassen. Der Regen prasselte unablässig gegen die Scheiben, während ihr jahrelang angestautes Selbstmitleid sich in Form von Tränen einen Weg suchte. Emily weinte, bis sie sich entschieden krank fühlte. Irgendwann bekam sie starke Kopfschmerzen. Völlig erschöpft schlief sie schließlich ein.
Nicholas balancierte ein Silbertablett mit Tee und Hochzeitskuchen mit der einen Hand, mit der anderen klopfte er leise an Emilys Tür. Es war vier Uhr nachmittags, und er hatte Emily seit dem gemeinsamen Frühstück nicht mehr gesehen.
Als sie ihn nicht hereinbat, klopfte er lauter. "Emily? Ich bringe dir Tee!" rief er gut gelaunt.
Sie antwortete ihm immer noch nicht. Nicholas zögerte einen Moment, ehe er die Türklinke hinunterdrückte
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