Der Höllenbote (German Edition)
tun konnte. Er konnte es mit Leichtigkeit und ohne das geringste Zögern tun. All diese Botschaften würde er mit dem größten Vergnügen überbringen – Old Man Halm, Margarita, die Kinder auf dem Zebrastreifen, Joanna Malloy und ihre Zwillinge –, aber das, so wusste er, wäre egoistisch. Sein Meister hatte ihn gut instruiert. Heute musste eine weitaus wichtigere Botschaft überbracht werden.
Nur noch ein paar Minuten, dann war er da. Doch kurz bevor er abbog, wurde ihm plötzlich schlecht. Er fühlte sich nervös und gereizt und alles drehte sich. Aber war es Carlton, dem schlecht wurde, oder ging es seinem Meister nicht gut?
Sein Kopf ruckte nach links und da sah er es. Das ausladende weiße Gebäude mit den schwarzen Einfassungen, davor das große Schild. Die Sonne warf den Schatten des Kirchturms wie einen dunklen Geist quer über die Straße.
BISCHOFSKIRCHE ST. MARY’S, verkündete das Schild. Darunter stand ein Zitat aus dem Lukasevangelium: Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie du gesagt hast.
Carlton musste den Wagen anhalten, so sterbenselend fühlte er sich. Es lag nicht an der Kirche – der Bote war im Laufe der Geschichte schon durch viele Kirchen gestapft, um sie zu entweihen. Nein, die Kirche selbst hatte damit nichts zu tun. Es war etwas an der Kirche ...
Carlton spürte Panik aufwallen, als er nach oben schaute. An der Spitze des Kirchturms befand sich ein schlichtes Kreuz, wie man es auch erwartet hätte. Das Kreuz übte keine Macht auf ihn oder den Boten aus. Aber direkt unter dem Kreuz ragte etwas hervor. Carlton starrte es an und die Übelkeit wallte erneut auf.
Eine goldene Statue stand dort, ein Engel mit einer Trompete.
Der Erzengel Gabriel, der Bote Gottes.
Carlton fauchte die Figur an und schleuderte ihr einige Schmähungen in einer Sprache, die er auf Erden nie gesprochen hatte, entgegen. Die Schimpfworte zerfetzten die Luft wie Kanonendonner. Vogelschwärme flatterten in Panik von den Bäumen auf. Carlton war sich nicht sicher, aber es kam ihm vor, als geriete sogar die Statue selbst ins Wanken.
Die Hände, die seine Hände kontrollierten, packten das Lenkrad. Der Fuß, der seinen Fuß kontrollierte, trat das Gaspedal durch. Carlton und der Bote rasten davon.
Nach der Begegnung mit der Nemesis des Boten war Carlton aufgedreht und deprimiert – aber vor allem aufgedreht. Doch alles würde sich zum Guten wenden, das wusste er. Es half ihm dabei, die Botschaft noch effektiver zu überbringen. Sein Mentor teilte seine Wut mit ihm, sie wurde zu einem Teil von ihm. Das Herz des Boten schlug im Einklang mit seinem Herz. Die Wollust des Boten war jetzt seine Wollust. Carlton und der Bote waren eins.
Die beschauliche Privatschule und ihr feudales Außengelände schimmerten in der Sonne. Das Tor stand offen, aber er entdeckte niemanden, bei dem man sich anmelden musste. Auf dem Schild neben dem Tor stand: SEATON – SCHULE FÜR CHRISTLICHE MÄDCHEN. In der Mitte des Vorplatzes plätscherte ein Betonbrunnen leise vor sich hin.
Nett hier ...
Stille schien sich über das Grundstück zu senken, als er mit dem LLV das Tor passierte. Carlton fuhr am Verwaltungstrakt und der St. Agnes Hall, dem Unterrichtsgebäude, vorbei. Einige Sekunden später parkte er das Fahrzeug vor der langen Säulenfront des Wohnheimes.
»Hallo!«, grüßte die Nonne am Empfang.
Carlton lächelte.
Schwester Katrice war keine typische Nonne, oder anders ausgedrückt: Sie wirkte weder betagt, noch gebeugt oder faltig. Die Frau im Habit, die Carltons Lächeln erwiderte, war vielmehr attraktiv und lebhaft, Mitte 30, mit einem hübschen Gesicht.
Carltons Lächeln wurde herzlicher, als er mit seinem Päckchen näher kam. »Sehet den Boten«, verkündete er fröhlich.
Schwester Katrice runzelte die Stirn. »Wie bitte? Ah, Sie meinen, Sie haben ein Paket für uns!«
»Jepp. Es ist heute Morgen nicht mehr mit auf die Tour gekommen, deshalb hab ich es schnell hergebracht.«
Die Nonne schien sich über die Unterbrechung ihres vermutlich recht öden Dienstes zu freuen. »Von wem ist es?«
Es kommt aus den tiefsten Abgründen der Hölle, krächzte die Stimme des Boten in Carltons Herz, und Carlton hätte diese Worte am liebsten laut ausgesprochen, aber stattdessen schaute er nur auf den Absender und sagte: »Mal sehen. Hiesige Adresse, kein Name, aber die gleiche Postleitzahl wie hier. Wer auch immer es geschickt hat, hätte gar kein Expresspaket draus machen müssen. Es wäre so oder so am nächsten
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