Der Hof (German Edition)
Sie verdient etwas Besseres.
«Das hier ist mein Zuhause», sagt sie leise.
«Die Leute verlassen ständig ihr Zuhause.»
«Mein Vater …» Sie verstummt. Als sie weiterspricht, habe ich den Eindruck, dass sie eigentlich etwas anderes hätte sagen wollen. «Mein Vater hat an Michel einen Narren gefressen. Ich kann ihn ihm nicht wegnehmen.»
«Er hätte immer noch Gretchen.»
Mathilde schaut aus dem Fenster. «Das ist nicht dasselbe. Er wollte immer einen Sohn. Töchter waren für ihn … eine Enttäuschung. Sogar Gretchen. Jetzt hat er einen Enkelsohn, und er erwartet, dass er auf dem Hof aufwächst.»
«Das bedeutet ja nicht, dass du damit einverstanden sein musst. Du hast dein eigenes Leben.»
Ihre Brust hebt und senkt sich. Das Einzige, was auf ihre innere Erregung hindeutet, ist das Pulsieren ihrer Halsschlagader. «Ich könnte Gretchen nicht alleinlassen. Und sie würde nicht mit mir kommen.»
Nein, das würde sie vermutlich nicht, denke ich. Allzu lebhaft erinnere ich mich, was ihre Schwester über Mathilde gesagt hat. Trotzdem macht mich diese Schicksalsergebenheit wütend. Ich will sie fragen, ob sie wohl glaubt, Gretchen werde für sie dasselbe tun. Sie verschwendet doch ihr Leben, wenn sie nach der Pfeife eines Mannes tanzt, der gerade heute versucht hat, sie wie beschädigte Ware an mich weiterzureichen. Aber ich habe wirklich schon mehr als genug gesagt, und in diesem Moment geht die Küchentür auf, und Gretchen kommt herein.
«Der Henne mit dem entzündeten Auge geht es schlechter», sagt sie und drückt die Schüssel mit den Eiern an ihre Brust. «Ich glaube, wir sollten …» Als sie uns sieht, verstummt sie.
Mathilde steht auf und entfernt sich rasch von dem Tisch. Ich spüre, wie ich rot werde, als wären wir bei etwas Verbotenem erwischt worden.
«Was hat er hier zu suchen?», fragt Gretchen.
«Ich mache nur eine Pause», sage ich und stehe auf.
Mathilde beginnt, die Macchinetta auszuwaschen. «Was hast du über die Henne gesagt?»
Gretchen antwortet nicht, aber ihr Gesicht verrät, was sie denkt.
«Ich gehe wohl lieber wieder an die Arbeit», sage ich und schiebe mich an ihr vorbei zur Tür. «Danke für den Kaffee.»
Mathilde nickt kurz, aber schaut nicht hoch. Gretchen ignoriert mich gleich ganz, denn ihr Blick ist auf den Rücken ihrer Schwester geheftet. Ich gehe nach draußen, aber ich bin nicht weit gekommen, als die erhobenen Stimmen bereits aus dem offenen Küchenfenster schallen. Sie sind erst nicht zu unterscheiden, aber dann wird eine Stimme – die von Gretchen – schrill und laut, bis man sogar alles versteht.
«… tun, was du sagst? Warum nur verdirbst du immer alles!»
Ich kann Mathildes Antwort nicht verstehen, doch sie spricht beruhigend auf ihre jüngere Schwester ein. Gretchens Stimme wird nur noch schriller.
«Doch, das machst du! Was gibt dir das Recht, mir zu sagen, was ich zu tun habe? Ich bin es leid, dass du dich wie eine …»
Das laut klatschende Geräusch einer Ohrfeige. Im nächsten Moment fliegt die Tür auf, und Gretchen kommt herausgestürmt. Mathilde taucht hinter ihr in der Tür auf.
«Gretchen!» Sie klingt verzweifelt. Gretchen wirbelt zu ihr herum, und dabei sehe ich den geröteten Abdruck einer Hand auf ihrer Wange.
«Ich
hasse
dich!» Sie rennt über den Hof. Mathilde macht ein paar Schritte, als wollte sie ihr nach, aber dann bleibt sie stehen, weil Michel heult. Ihr ist deutlich ins Gesicht geschrieben, wie unglücklich sie ist. Dann bemerkt sie mich. Sie wendet sich ab und verschwindet im Haus.
Ich trete unter dem Dach des Stalls hervor und versichere mich, dass Gretchen verschwunden ist. Ich möchte lieber nicht zwischen die Fronten geraten. Als die gewohnte Stille den Hof wieder in Beschlag genommen hat, gehe ich zurück zur Scheune und weiß nicht, was ich machen soll. Es hat keinen Sinn, jetzt noch eine neue Wanne Mörtel zu mischen; es muss schon fast Mittag sein, und nach meinem frühen Arbeitsbeginn fühle ich mich nicht in der Lage, sofort wieder aufs Gerüst zu steigen. Der Kaffee hat mich nur noch durstiger gemacht, weshalb ich zum Wasserhahn in der Scheune gehe und trinke. Ich drehe den Hahn auf und halte die Hände unter den kalten Strahl. Über dem Plätschern höre ich ein anderes Geräusch. Ich drehe das Wasser ab, trete aus der Scheune und wische meine Hände am Overall ab. Krawall dringt aus dem Wald unten am See herauf. Es ist zu weit weg, um allzu viel zu hören, aber wenn ich das Quieken richtig deute,
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