Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
der einem schrecklichen Irrtum entsprang, nahm umgehend seinen Lauf. Der britische Geheimdienst hatte sich eingemischt, und es war gut möglich, daß diese Einmischung Helden das Leben gekostet hatte.
Aber warum? Warum hier, in einem obskuren französischen Dorf? Er kannte die Antwort nicht. Er wußte nur, daß dieser Mann, dessen Hals er jetzt umklammert hielt, sein Feind war, für ihn ebenso gefährlich wie die RACHE oder die ODESSA.
»Aufstehen!« Holcroft arbeitete sich hoch und zerrte an dem Mann. Sein Fehler war, daß er den Agenten einen Augenblick losließ. Und da schmetterte ohne Warnung ein lähmender Fausthieb in seine Magengrube. Seine Blicke verschwammen, und ein paar Sekunden war ihm nur bewußt, daß er gewaltsam quer durch ein Meer erstaunter Gesichter gezerrt wurde. Plötzlich schleuderte man ihn gegen eine Hauswand. Er konnte hören, wie sein Kopf dagegenkrachte.
»Sie verdammter Narr! Wie, zum Teufel, stellen Sie sich hier an? Das hätte Sie da drüben um ein Haar das Leben gekostet.« Der Mann von MI-5 schrie nicht, aber es machte keinen Unterschied, so eindringlich war seine Stimme. Noel konnte jetzt wieder sehen: der Agent hielt ihn fest. Wieder preßte sich der Arm des Mannes über seine Kehle.
»Dreckskerl!« Er brachte die Worte kaum im Flüsterton hervor. »Sie haben doch versucht, mich zu töten...«
»Sie gehörten in ein Irrenhaus gesteckt, Holcroft! Der Tinamu
würde sie nicht einmal berühren. Ich muß Sie hier herausholen. «
»Der Tinamu? Hier?«
»Weg hier!«
» Nein! Wo ist Helden?«
»Ganz bestimmt nicht bei uns! Glauben Sie, wir sind verrückt? «
Noel starrte den Mann an; er sprach die Wahrheit. Das alles war verrückt. »Dann hat jemand sie mitgenommen! Sie ist weg!«
»Wenn sie weg ist, ist sie freiwillig mitgegangen«, sagte der Agent. »Wir haben versucht, Sie zu warnen. Lassen Sie die Finger von dieser Sache!«
»Nein, Sie irren sich! Da war ein Mann - mit Pockennarben im Gesicht...«
»Der Fiat?«
»Ja! Der. Er hat uns verfolgt. Ich wollte ihn mir schnappen, und da haben seine Leute mich erwischt. Sie versuchten, mich zu töten.«
»Kommen Sie mit«, befahl der Agent, packte Holcrofts Arm und zerrte ihn weiter.
Sie erreichten eine enge, finstere Gasse. Kein Sonnenstrahl drang durch, alles lag im Schatten. Die Gasse war von Mülltonnen gesäumt. Hinter der dritten Mülltonne rechts konnte Noel ein Paar Beine sehen. Der Rest der Gestalt war von der Tonne verdeckt.
Der Agent stieß Noel in die Gasse hinein, vier oder fünf Schritte genügten, daß er den oberen Teil des Körpers sehen konnte.
Auf den ersten Blick schien der Mann mit dem pockennarbigen Gesicht betrunken zu sein. Er hielt mit beiden Händen eine Flasche Rotwein umfaßt; etwas von dem Wein war auf seine Hose getropft. Aber es war ein anderes Rot als der Fleck, der sich über seine Brust ausgebreitet hatte.
Der Mann war erschossen worden.
»Da haben Sie Ihren Killer«, sagte der Agent. »Wollen Sie uns jetzt zuhören? Fahren Sie nach New York zurück. Sagen Sie uns, was Sie wissen, und lassen Sie die Finger von dieser Geschichte. «
Noels Gedanken rasten wirr im Kreise, Nebel der Verwirrung hüllten ihn ein. Da lag gewaltsamer Tod in der Luft, Tod in New York, Tod in Rio, Tod hier in einem kleinen französischen Dorf. Die RACHE, die ODESSA, die Überlebenden der Wolfsschanze ...
Nichts ist so, wie es für Sie war ...
Er wandte sich dem MI-5-Mann zu, und seine Stimme war nur noch ein Flüstern. »Verstehen Sie denn nicht? Ich kann nicht ... «
Am Ende der Gasse entstand plötzlich ein Tumult. Zwei Gestalten rannten vorbei, wobei eine die andere schob. Befehle waren zu hören - kehlig, hart, man konnte die Worte nicht verstehen, aber ihr Sinn war klar. Hilferufe wurden von dem Klatschen von Fleisch auf Fleisch übertönt, bösartigen Schlägen, und dann waren die undeutlichen Gestalten weg, aber Holcroft hörte den Schrei.
»Noel! Noel ... !«
Das war Helden! Plötzlich funktionierte Holcrofts Verstand wieder, und er wußte, was er zu tun hatte. Mit aller Kraft trieb er dem Agenten die Schulter in die Seite, so daß er über die Mülltonne stolperte, die die Leiche des pockennarbigen Mannes verdeckte.
Er rannte aus der Gasse hinaus.
21.
Die Schreie hielten an, aber er konnte nicht sagen, aus welcher Entfernung sie kamen, so laut war das muntere Treiben der Menge auf dem Dorfplatz. Akkordeonmusik und schrille Kornettklänge waren zu hören, und hier und dort drehten sich junge Paare im
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