Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
die Strandpromenade grenzte, wanden sich die schwarzweißen parallelen Linien der Copacabana, der Goldenen Küste von Guanabara. Die Szene hatte etwas Leeres an sich, und das rührte keineswegs daher, daß der Strand verlassen war. Das Ganze war zu perfekt, zu
hübsch. Er hätte das nie so entworfen; diesem Bild fehlte das Wesen hinter dem Schein. Er starrte auf die Fensterscheiben. Für ihn gab es jetzt nichts zu tun, nur nachdenken und ausruhen und hoffen, daß er würde schlafen können. In der letzten Woche hatte er Schlafschwierigkeiten gehabt; jetzt würde das noch schlimmer sein. Weil er jetzt wußte, was er vorher nicht gewußt hatte. Jemand hatte versucht, ihn zu töten.
Dieses Wissen erzeugte in ihm ein seltsames Gefühl. Er konnte nicht glauben, daß es jemanden gab, der seinen Tod wollte. Und doch mußte jemand diese Entscheidung getroffen, den Befehl gegeben haben. Warum? Was hatte er getan? War es wegen Genf? Seinem Vertrag?
Wir haben es hier mit Millionen zu tun . Das waren nicht nur die Worte des toten Manfredi; sie galten auch ihm als Warnung. Das war die einzig mögliche Erklärung. Die Sache war durchgesickert, und niemand konnte sagen, wie weit sie sich herumgesprochen hatte, wer von ihr aufgestört war, wer jetzt außer sich geriet. Ebensowenig kannte man die Person oder die Personen, die zu verhindern trachteten, daß das Genfer Konto freigegeben wurde, und es von internationalen Gerichten blockieren lassen wollten.
Manfredi hatte recht gehabt. Es gab nur einen ehrenhaften Weg für ihn: den Auftrag der drei außergewöhnlichen Männer auszuführen, den Wunsch jenes Dokuments zu erfüllen, das aus der Verwüstung der Welt durch ein Ungeheuer geboren war. Wir müssen für Wiedergutmachung sorgen . Das war das Credo von Heinrich Clausen. Es war ehrenhaft; es war richtig. So irregeleitet sie gewesen waren, das hatten die Männer der Wolfsschanze verstanden.
Noel goß sich einen Drink ein, ging zum Bett hinüber und setzte sich auf die Kante, starrte das Telefon an. Daneben waren die zwei Nummern auf einem Hotelblock, die Nummern, die Sam Buonoventura ihm gegeben hatte. Sie stellten seine Verbindung zu Lieutenant Miles, Polizeiabteilung der Flughafenbehörde, dar. Aber Holcroft brachte es nicht fertig, jetzt anzurufen. Er hatte die Jagd begonnen; er hatte den ersten Schritt auf seiner Suche nach der Familie Wilhelm von Tiebolts getan. Schritt, zum Teufel! Es war ein riesiger Sprung
von viertausend Luftmeilen; er würde jetzt nicht kehrtmachen.
Es gab so viel zu tun. Noel fragte sich, ob er imstande war, es zu tun, imstande, sich seinen Weg durch den dichten Urwald zu bahnen.
Er spürte, wie seine Augenlider schwer wurden. Der Schlaf übermannte ihn, und er war dankbar dafür. Er stellte das Glas weg und streifte die Schuhe ab, kümmerte sich nicht um den Rest seiner Kleider. Er ließ sich aufs Bett fallen und starrte ein paar Sekunden zur weißen Decke empor. Er fühlte sich so allein und wußte doch, daß er das nicht war. Da gab es einen Mann in der Vergangenheit, dreißig Jahre zurück, der schreckliche Qualen litt und ihm zurief. Über diesen Mann dachte er nach, bis der Schlaf sein Bewußtsein auslöschte.
Holcroft folgte dem Dolmetscher in den schwach beleuchteten, fensterlosen Raum. Ihr Gespräch war kurz gewesen; Noel hatte ganz präzise Fragen gestellt. Der Name lautete von Tiebolt; bei der Familie handelte es sich um deutsche Staatsbürger. Eine Mutter und zwei Kinder — eine Tochter und ein Sohn — waren um den 15. Juni 1945 in Brasilien eingewandert. Ein drittes Kind, wieder eine Tochter, war einige Monate später zur Welt gekommen, vermutlich in Rio de Janeiro. Es mußte doch irgendwelche Vermerke in den Akten geben. Selbst wenn sie einen falschen Namen benutzt hatten, brauchte man doch bloß die fraglichen Wochen zu überprüfen — zwei oder drei Wochen vor und nach dem vermutlichen Datum — und würde dann ohne Zweifel auf eine schwangere Frau stoßen, die mit zwei Kindern eingereist war. Sofern dabei mehr als eine Frau in Frage kam, war es sein Problem, die richtige ausfindig zu machen. Aber ein Name wäre doch das mindeste, was ans Licht kommen mußte.
Nein, es handle sich nicht um eine offizielle Anfrage. Es gab keine Strafanzeige, es ging auch nicht um Rache für Verbrechen, die dreißig Jahre zurücklagen. Im Gegenteil, es handle sich um eine >wohlmeinende< Suche.
Noel wußte, daß man eine Erklärung von ihm verlangen würde, und erinnerte sich an eine der
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