Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
vielleicht vor Tagen erst. Er war nicht sicher, woher er es kannte, aber er kannte es. Er ging zum Sekretär und sah sich das Foto genauer an.
Es waren die Augenbrauen! Sie waren merkwürdig, stachen hervor wie ein Ding für sich... wie ein bizarrer Sims aus einer nichtssagenden Tapete. Die Brauen waren dicht, ein Gewirr von schwarzem und weißem Haar... Pfeffer und Salz. Augen, die sich plötzlich öffneten, die ihn anstarrten. Und jetzt erinnerte er sich!
An seinen Flug nach Rio! Und noch an etwas anderes. Das Gesicht im Flugzeug nach Brasilien hatte eine Erinnerung beschworen - die Erinnerung an Gewalt. Aber das einzige, was vor ihm auftauchte, war eine verschwommene, rennende Gestalt.
Noel drehte den silbernen Rahmen um und mühte sich, das Rückteil abzunehmen. Dann bekam er ihn endlich auf und nahm das Foto heraus. Er sah winzige Eindrücke in der glatten Oberfläche; er drehte das Bild um. Da war Schrift. Er hob das Blatt hoch, so daß das Licht darauf fiel, und einen Augenblick stockte sein Atem. Es waren Worte in deutscher Sprache: WIEDERAUFBAU ODER TOD.
Ebenso wie das Gesicht auf dem Bild, hatte er auch diese Worte schon einmal vor sich gesehen! Sie hatten für ihn keine Bedeutung; es waren deutsche Worte, die ihm nichts sagten... aber er hatte sie schon einmal gesehen!
Verwirrt faltete er die Fotografie zusammen und stopfte sie sich in die Hosentasche.
Er öffnete die Tür eines Kleiderschranks, schob den silbernen Rahmen zwischen zusammengelegte Wäsche, nahm sein Jackett und ging ins Wohnzimmer. Er wußte, daß er das Haus auf schnellstem Weg verlassen sollte, aber der Mann auf dem Foto ließ ihn nicht los. Er mußte etwas über ihn herausbekommen.
Vom Wohnzimmer aus gingen zwei Türen. Die eine stand offen und führte in die Küche. Die andere war geschlossen. Er öffnete sie und betrat das Arbeitszimmer des Commanders. Er schaltete das Licht ein; da waren überall Fotografien von Schiffen und Männern, waren Urkunden und Orden und Ehrenzeichen. Commander Beaumont war ein Karriereoffizier wie aus dem Bilderbuch. Eine schmerzliche Scheidung und eine etwas fragwürdige zweite Ehe mochten unangenehme persönliche Probleme für ihn geschaffen haben, aber die Royal Navy hatte das offensichtlich keineswegs berührt. Die letzte Urkunde war erst sechs Wochen alt: eine Belobigung für besondere Führungsqualitäten während eines Einsatzes auf Küstenstreife vor den Balearen bei orkangepeitschter See.
Ein flüchtiger Blick auf die Papiere, die auf dem Schreibtisch und in den Schubladen lagen, brachte Noel keine neuen Erkenntnisse. Zwei Sparbücher zeigten vierstellige Konten, beide unter dreitausend Pfund; ein Brief vom Anwalt seiner ehemaligen Frau enthielt Forderungen bezüglich des Besitzes in Schottland; dann gab es noch verschiedene Kopien von Logbüchern und Segelplänen.
Holcroft wäre gern eine Weile hier geblieben und hätte sich noch gründlicher nach Spuren des fremden Mannes mit den seltsamen Augenbrauen umgesehen, aber er wußte, daß er das nicht wagen konnte. Er hatte sein Schicksal ohnehin schon herausgefordert. Er mußte jetzt hier weg.
Er verließ das Haus und blickte auf die andere Straßenseite zu den Fenstern hinauf, hinter denen noch vor wenigen Minuten Lichter und neugierige Gesichter zu sehen gewesen waren. Aber jetzt brannte nirgends mehr Licht, gab es da keine Gesichter mehr. Der Schlaf war wieder in Portsea eingekehrt. Eilig ging er den Weg hinunter, öffnete das Tor
und ärgerte sich, daß die Angeln quietschten. Er schloß die Tür seines Mietwagens auf und klemmte sich hinters Steuer. Dann drehte er den Schlüssel im Zündschloß.
Nichts. Er drehte ihn ein zweites Mal. Und wieder und wieder. Nichts!
Er zog den Hebel für die Motorhaube, rannte nach vorn und riß sie hoch. Der Lärm, den er machte, war ihm egal; er fürchtete etwas viel Schlimmeres. Selbst wenn die Batterie des Mietwagens leer wäre, müßte es noch ein schwaches Klicken im Zündschloß geben. Das Licht der Straßenlampe fiel auf den freigelegten Motor und zeigte ihm, was er befürchtet hatte.
Die Drähte waren abgeschnitten, mit der Präzision eines Chirurgen durchgetrennt. Er würde sie nicht einfach zusammenspleißen und den Wagen wieder anlassen können; man würde ihn abschleppen müssen.
Wer auch immer der Täter war, er wußte, daß ein Amerikaner hier in fremder Umgebung mitten in der Nacht nicht wegkäme. Wenn es in diesem abgelegenen Vorort überhaupt Taxis gab, so standen sie um diese Zeit
Weitere Kostenlose Bücher