Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
Kilometer von hier ist ein kleines Gasthaus. Es liegt abseits; niemand wird uns sehen.«
Als sie von der Straße abbogen, sah Noel in den Rückspiegel. Scheinwerfer leuchteten im Glas. Es war eine seltsame Abfahrt von der Hauptstraße nach Paris, seltsam, weil er keine Wegweiser gesehen hatte. Die Tatsache, daß jemand hinter ihnen um diese Zeit gerade diese Ausfahrt nahm, beunruhigte ihn. Holcroft wollte Helden gerade darauf aufmerksam machen, als etwas sehr Merkwürdiges geschah.
Die Lichter im Rückspiegel erloschen. Sie waren einfach nicht mehr da.
Der Gasthof war früher einmal ein Bauernhaus gewesen; ein Teil des Weidelandes war jetzt ein kiesbedeckter Parkplatz, den ein Bretterzaun eingrenzte. Von der Theke führte ein Türbogen in die kleine Gaststube. Zwei Paare saßen dort; ganz offensichtlich Leute aus Paris, und ebenso offensichtlich Leute, die hier ein diskretes Abendessen in einer Begleitung einnahmen, die sie in Paris nicht zum Essen führen konnten. Sie blickten den Ankömmlingen entgegen, und in den Blikken war kein Willkommen. Am anderen Ende des Raums war ein offener Kamin, in dem Holzscheite loderten. Es war ein guter Platz, um zu reden.
Man führte sie an einen Tisch links vom Feuer. Sie bestellten Cognac.
»Hier ist es nett«, sagte Noel, der gleichzeitig die Wärme des Feuers und des Alkohols spürte. »Wie haben Sie das gefunden?«
»Es liegt auf dem Weg zum Oberst. Meine Freunde und ich machen oft hier Station, um uns zu besprechen.«
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Fragen stelle?«
»Nur zu.«
»Wann haben Sie England verlassen?«
»Vor etwa drei Monaten. Als die Stelle ausgeschrieben wurde.«
»Waren Sie die Helen Tennyson im Londoner Telefonbuch? «
»Ja. Im Englischen scheint der Name >Helden< eine Erklärung zu verlangen, und ich war es leid geworden, diese Erklärung jedesmal wieder abzugeben. In Paris ist das nicht so. Die Franzosen interessieren sich nicht so für Namen.«
»Aber Sie nennen sich nicht >von Tiebolt<.« Holcroft bemerkte ein unwilliges Zucken in ihren Augen.
»Nein.«
»Warum >Tennyson«
»Das liegt doch auf der Hand. >Von Tiebolt< ist sehr deutsch. Als wir Brasilien verließen und nach England zogen, schien das ein vernünftiger Wechsel.«
»Einfach ein Wechsel? Sonst nichts?«
»Nein.« Helden nippte an ihrem Cognac und blickte ins Feuer. »Sonst nichts.«
Noel sah sie an; ihr Tonfall verriet die Lüge. Sie war keine gute Lügnerin. Sie verbarg etwas vor ihm, aber sie jetzt darauf anzusprechen, würde sie nur provozieren. Also ließ er ihr die Lüge hingehen. »Was wissen Sie über Ihren Vater? «
Sie wandte sich ihm wieder zu. »Sehr wenig. Meine Mutter hat ihn geliebt, und nach dem, was sie mir erzählt hat, war er ein viel besserer Mensch, als man aus seinen Jahren im Dritten Reich schließen könnte. Und jetzt haben Sie das ja bestätigt, oder? Am Ende war er ein im höchsten Grade moralischer Mensch.«
»Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«
»Sie war ein Überlebenstyp. Sie ist mit ein paar Schmuckstücken, zwei Kindern und einem ungeborenen Baby im Leib aus Deutschland geflohen. Sie hatte keinerlei Ausbildung, keinen Beruf, keine besonderen Fähigkeiten. Aber sie konnte arbeiten, und sie war... überzeugend. Sie arbeitete als Verkäuferin in Kleidergeschäften, ging auf ihre Kunden ein, machte aus ihrem Blick für Mode — den hatte sie — die
Grundlage eines eigenen Geschäfts. Einiger Geschäfte sogar. Unser Haus in Rio de Janeiro war recht aufwendig.«
»Ihre Schwester sagte mir, es sei... ein Zufluchtsort gewesen, aus dem eine Art Hölle geworden war.«
»Meine Schwester neigt zu melodramatischen Formulierungen. So schlimm war es nicht. Wenn man auf uns herabblickte, dann hatte das gewisse Gründe.«
»Was für welche?«
»Meine Mutter war ungemein attraktiv...«
»Das sind ihre Töchter auch«, unterbrach Noel.
»Mag sein«, sagte Helden fast beiläufig. »Mir war das nie wichtig. Ich brauchte das nie — meine Attraktivität einsetzen, meine ich, falls ich über so was verfüge. Aber meine Mutter hat es getan.«
»In Rio?«
»Ja. Sie wurde von einigen Männern ausgehalten... Wir wurden ausgehalten, um es genau zu sagen. Es gab ihretwegen zwei oder drei Scheidungen, aber sie wollte die jeweiligen Männer nicht heiraten. Sie zerstörte Ehen und beschaffte sich auf die Weise Geld und geschäftliche Vorteile. Als sie starb, waren wir recht wohlhabend. Die deutsche Kolonie freilich hat sie als eine Art Paria
Weitere Kostenlose Bücher