Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
Die Anwerbemethoden der ODESSA
reichen von Erpressung bis zu körperlicher Gewalt. Es sind Gangster.«
»Und diese ... ›RACHE‹?«
»Das ist ein deutsches Wort und bedeutet soviel wie ›Vergeltung<. Ursprünglich war das eine Gemeinschaft, die von den Überlebenden der Konzentrationslager gegründet wurde. Sie haben die Sadisten und die Mörder gejagt, jene Tausende, die nie vor Gericht gebracht wurden.«
»Dann ist es eine jüdische Organisation?«
»Der RACHE gehören Juden an, ja, aber heute sind sie in der Minderheit. Die Israelis haben ihre eigenen Gruppen gebildet und waren von Tel Aviv und Haifa aus tätig. Die RACHE ist überwiegend kommunistisch; viele glauben sogar, daß der KGB sie übernommen hat. Andere meinen, daß sich auch Revolutionäre aus der Dritten Welt eingeschlichen haben. Die >Vergeltung<, von der sie ursprünglich sprachen, hat sich in etwas ganz anderes verwandelt. Die RACHE ist ein Zufluchtsort für Terroristen.«
»Aber weshalb sind sie hinter Ihnen her?«
Helden sah ihn im schwachen Licht, das im Wageninneren herrschte, an. »Um uns anzuwerben. Natürlich gibt es auch unter uns eine gewisse Zahl von Revolutionären. Die fühlen sich von der RACHE angezogen; sie stellt für sie genau das Gegenteil von dem dar, wovor sie fliehen. Für die meisten von uns freilich ist sie auch nicht besser als die Nazipartei in ihrer schlimmsten Zeit. Und gegen diejenigen von uns, die sich nicht anwerben lassen, setzt die RACHE die härtesten Mittel ein. Wir sind für sie Sündenböcke, Faschisten, die sie vernichten wollen. Sie benutzen unsere Namen — häufig unsere Leichen —, um der Welt zu zeigen, daß es immer noch Nazis gibt. In dem Punkt sind sie der ODESSA sehr ähnlich; häufig lautet die Alternative wirklich nur >anwerben oder töten‹.«
»Das ist verrückt «, sagte Noel.
» Verrückt «, nickte Helden. »Aber sehr real. Wir sagen nichts; wir legen keinen Wert darauf, Aufmerksamkeit auf uns zu lenken. Außerdem, wer würde sich denn dafür interessieren? Wir sind Nazikinder.«
»Die ODESSA, die RACHE... Niemand, den ich kenne, weiß etwas darüber.«
»Niemand, den Sie kennen, hat Anlaß dazu.«
»Wer ist der Oberst?«
»Ein großer Mann, der den Rest seines Lebens im verborgenen verbringen muß, weil er ein Gewissen hatte.«
»Was soll das heißen?«
»Er gehörte dem Oberkommando des Heeres an und hat all die Schrecken miterlebt. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich dagegenzustellen; andere hatten das getan und sind umgebracht worden. So blieb er und benutzte seinen Rang, um immer wieder Befehle zu widerrufen und so viele Leben zu retten.«
»Daran ist nichts Unehrenhaftes.«
»Er hat es auf die einzige Weise getan, die ihm möglich war. Still und leise, innerhalb der Bürokratie, der Befehlskanäle, ohne aufzufallen. Als es vorbei war, haben ihn die Alliierten wegen seiner Position im Reich verurteilt; er hat achtzehn Jahre im Gefängnis verbracht. Als das, was er getan hatte, schließlich bekannt wurde, haben ihn Tausende von Deutschen verachtet. Sie bezeichneten ihn als Verräter. Ein paar, die vom deutschen Wehrmachtsführungsstab übrigblieben, haben einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt.«
Noel, der sich an Heldens Worte erinnerte, sagte: »Verdammt für das, was er war, und verdammt für das, was er nicht war.«
»Ja«, antwortete sie und wies plötzlich auf eine Abzweigung, die sie beinahe übersehen hätte.
»Auf seine ganz persönliche Art«, sagte Noel und drehte das Steuer herum, »ist der Oberst wie die drei Männer, die das Genfer Dokument geschrieben haben. Ist Ihnen das nicht auch in den Sinn gekommen?«
»Doch, das ist es.«
»Die Versuchung muß groß gewesen sein, es ihm zu sagen. «
»Eigentlich nicht. Sie hatten mich doch darum gebeten, das nicht zu tun.«
Er sah sie an; sie blickte geradeaus, durch die Windschutzscheibe. Ihr Gesicht war müde und wirkte angespannt, ihre Haut war bleich und betonte damit die dunklen Ringe unter ihren Augen. Sie wirkte einsam und allein, auf eine Art, daß
man sich nicht so einfach aufdrängen durfte. Aber die Nacht war noch nicht vorbei. Sie hatten sich vieles zu sagen; sie mußten Entscheidungen treffen.
Und Noel begann zu glauben, daß dieses jüngste Kind des Wilhelm von Tiebolt dasjenige war, auf das die Wahl fiele, die Familie von Tiebolt in Genf zu vertreten.
»Können wir irgendwohin fahren, wo es ruhig ist? Ich glaube, uns beiden täte ein Schluck zu trinken gut.«
»Sechs oder acht
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