Der Horizont: Roman (German Edition)
einige Dichter und ausländische Autoren verlegt. Aber die Kunden, die sich noch in diese Buchhandlung verirrten, interessierten sich zumeist für okkulte Wissenschaften und kamen hierher auf der Suche nach anderswo unauffindbaren Werken, die Bosmans oft aus dem Lager holen musste.
Wie hatte er diese Arbeit gefunden? Eines Nachmittags, als er durch die Gegend um seine Wohnung im vierzehnten Arrondissement spazierte, war ihm das verblasste Ladenschild über dem Schaufenster aufgefallen: Éditions du Sablier . Er war eingetreten. Bourlagoff saß hinter dem Tisch. Ein Gespräch hatte sich entsponnen. Man suchte jemanden, der an vier Tagen in der Woche die Buchhandlung betreuen konnte … Einen Studenten. Bosmans hatte gesagt, die Sache interessiere ihn, er sei jedoch kein »Student«. Egal. Man wollte ihm für diese Arbeit zweihundert Franc pro Woche geben.
Zum ersten Mal auf seinem Arbeitsplatz besucht hatte ihn Margaret an einem sonnigen Samstag im Winter. Aus dem Fenster von Hornbachers Büro hatte er sie dort unten gesehen, an der Biegung der Avenue Reille. Er erinnerte sich, dass sie kurz gezögert hatte. Sie war auf dem Trottoir stehengeblieben, hatte von links nach rechts geschaut, auf beide Straßenseiten, als habe sie die Hausnummer der Buchhandlung vergessen. Dann war sie weitergegangen. Bestimmt hatte sie das Schaufenster von weitem erkannt. Von diesem Tag an spähte er stets hinterm Fenster nach ihr, wenn sie in den ehemaligen Éditions du Sablier miteinander verabredet waren. Immer noch kommt sie ihm auf dem leicht ansteigenden Trottoir der Avenue Reille entgegen, in klarem Winterlicht, wenn der Himmel blau ist, doch es könnte auch Sommer sein, denn ganz hinten sieht man die Blätter der Parkbäume. Manchmal regnet es, aber der Regen scheint sie nicht weiter zu stören. Sie geht im Regen mit dem gleichen ruhigen Schritt wie sonst. Nur hält die rechte Hand den Kragen ihres roten Mantels.
A n dem einen oder andern Freitagabend war er in der Wohnung von Professor Ferne gewesen, dem einzigen Wochentag, an dem der Professor und seine Frau bis Mitternacht ausgingen und Margaret bei den zwei Kindern blieb. Am frühen Nachmittag begleitete sie das Mädchen zum Collège Sévigné und den Jungen zum Lycée Montaigne. Sie aß mit ihnen zu Abend. Nach dem Abendessen hatte sie frei, und Bosmans wartete auf sie in der Avenue de l’Observatoire.
Eines Abends war sie unten am Gitterzaun des Squares erschienen und hatte gesagt, sie müsse noch länger bei den Kindern bleiben. Sie hatte ihm vorgeschlagen, mit hinaufzukommen in die Wohnung, doch er hatte gezögert. Die Fernes waren bei einem Kollegen aufgehalten worden und konnten nach dem Abendessen nicht gleich zurück sein. Ob sie nicht glaube, dass seine Anwesenheit dem Professor und seiner Frau bei ihrer Rückkehr missfallen oder die Kinder vielleicht ängstigen würde? Er war den Umgang mit solchen Leuten überhaupt nicht gewöhnt, und ihre Berufe schüchterten ihn ein: er, Georges Ferne, Professor für Verfassungsrecht an einer sehr hohen Hochschule, und sie, Suzanne Ferne, Anwältin am Pariser Schwurgericht, wie es auf ihrem jeweiligen Briefpapier stand, das Margaret ihm gezeigt hatte.
Er war ihr mit einer gewissen Furcht in die Wohnung gefolgt. Warum hatte er das Gefühl, sich einzuschleichen wie ein Dieb? Schon im Vorzimmer hatte ihn eine Art Nüchternheit beeindruckt. Die Wände waren mit dunklem Holz getäfelt. Fast keine Möbel im Salon, dessen Fenster auf den Park des Observatoriums gingen. Handelte es sich übrigens wirklich um einen Salon? Zwei kleine Schreibtische standen vor den Fenstern, und sie erklärte ihm, der Professor und seine Frau arbeiteten hier oft nebeneinander, jeder an seinem Schreibtisch.
An jenem Abend saßen die zwei Kinder in Schlafröcken mit Schottenkaro auf dem schwarzledernen Kanapee des Salons. Als Margaret und Bosmans eintraten, lasen sie gerade, und alle beide hatten das gleiche vornübergebeugte und wissbegierige Gesicht. Sie standen auf und kamen herbei, um Bosmans auf sehr förmliche Weise die Hand zu geben. Sie schienen sich kein bisschen über seine Anwesenheit zu wundern.
Der Junge las in einem Mathematiklehrbuch. Bosmans war überrascht zu sehen, dass er Anmerkungen an den Rand schrieb. Das Mädchen war in einen der gelben Bände der Reihe Classiques Garnier versunken: die Pensées von Pascal. Bosmans hatte sie nach ihrem Alter gefragt. Elf und zwölf Jahre. Er hatte sie beglückwünscht zu ihrem Ernst und ihrer
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