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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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ihnen zu entkommen. Am nächsten Tag hatte ihm der Mann eines seiner alten Gedichte geschickt, um ihm zu zeigen, wozu er im gleichen Alter fähig war. Und das möge ihm eine Lehre sein in Sachen Stil. »Kein Juni ist strahlender gewesen / Als der Juni vierzig zur Sonnenwende / Die Erwachsenen hatten den Krieg verloren / Und du liefst über die Heide zerkratztest dir deine Knie / Ein Junge rein und stürmisch / Weit weg von den Dörflerinnen den lüsternen Mädchen / Das Blau des Himmels war niemals so blau gewesen / Dort auf der Straße sahst du ihn ziehen / Den jungen deutschen Panzerpionier / Sein blondes Haar in der Sonne / Dein Bruder / Im Kindsein.«
    Seither hatte er oft einen Traum: Seine Mutter und der aus der Kutte Gesprungene traten in sein Zimmer, ohne dass er sich nur im geringsten wehren konnte. Sie durchwühlte die Taschen seiner Kleider auf der Suche nach einem Geldschein. Der andere entdeckte die zwei Clairefontaine-Hefte auf dem Tisch. Er warf einen finsteren Blick darauf und zerriss sie dann sorgfältig, kerzengerade und mit strengem Gesicht wie ein Inquisitor, der ein obszönes Werk vernichtet. Wegen dieses Traums wollte Bosmans vorsichtig sein. Wenigstens das Abtippen sollte außer Reichweite dieser zwei Individuen geschehen. Auf neutralem Boden.
    Als er zum ersten Mal in der Rue de Belloy Nr. 8 läutete, hatte er einen großen Umschlag mit etwa zwanzig ins reine geschriebenen Seiten dabei. Eine blonde Frau um die Fünfzig, mit grünen Augen und von eleganter Erscheinung, öffnete ihm. Das Wohnzimmer war leer, kein einziges Möbelstück, abgesehen von einer Bar aus hellem Holz zwischen den beiden Fenstern und einem hohen Hocker. Sie ersuchte ihn, sich zu setzen, und stellte sich hinter die Bar. Sie sagte ihm gleich, sie könne nur etwa zehn Seiten pro Woche tippen. Bosmans erwiderte, das mache überhaupt nichts und sei vielleicht sogar besser: Er würde mehr Zeit auf die Korrekturen verwenden.
    »Und worum handelt es sich?«
    Sie hatte zwei Gläser auf die Bar gestellt und goss Whisky ein. Bosmans getraute sich nicht abzulehnen.
    »Um einen Roman.«
    »Ach … Sie sind Romancier?«
    Er gab keine Antwort. Hätte er ja gesagt, wäre er sich wie ein Bürgerlicher vorgekommen, der falsche Adelstitel benutzt. Oder wie ein Betrüger, einer von denen, die an Wohnungstüren klingeln und erfundene Enzyklopädien in Aussicht stellen, vorausgesetzt, man leistet eine Anzahlung.
    Fast sechs Monate lang fuhr er regelmäßig zu Simone Cordier, um ihr neue Seiten zu bringen und die getippten abzuholen. Er hatte sie gebeten, die handgeschriebenen Seiten bei sich aufzubewahren, als Vorsichtsmaßnahme.
    »Haben Sie vor etwas Angst?«
    Er erinnerte sich sehr gut an diese Frage, die sie eines Abends gestellt hatte, während sie ihn mit einem erstaunten und zugleich wohlwollenden Blick musterte. Damals konnte man die Unruhe bestimmt aus seinem Gesicht herauslesen, aus seiner Art zu sprechen, zu gehen und sogar sich hinzusetzen. Er saß immer auf dem Rand von Stühlen oder Fauteuils, bloß auf einer Pobacke, als fühle er sich fehl am Platz und wolle gleich wieder fliehen. Diese Haltung rief manchmal Verwunderung hervor, bei einem hochgewachsenen Burschen von hundert Kilo. Man sagte ihm: »Sie sitzen nicht gut … Entspannen Sie sich … Machen Sie es sich bequem …«, doch es war stärker als er. Oft sah er aus, als wolle er sich entschuldigen. Wofür eigentlich? Zuweilen stellte er sich diese Frage, wenn er allein auf der Straße ging. Sich wofür entschuldigen? Hm? Dafür, dass er lebte? Und dann konnte er nicht anders und brach in so schallendes Gelächter aus, dass sich die Passanten nach ihm umdrehten.
    Doch wenn er abends zu Simone Cordier ging, um die maschinegeschriebenen Seiten abzuholen, sagte er sich, dass er wohl zum ersten Mal nicht mehr zu ersticken glaubte und nicht mehr auf dem Quivive war. Wenn er die Metrostation Boissière verließ, lief er nicht Gefahr, auf seine Mutter und ihren Begleiter zu treffen. Er war sehr weit weg, in einer anderen Stadt, fast in einem anderen Leben. Warum nur hatte ihn das Leben mit solchen Hampelmännern in Berührung gebracht, die sich einbildeten, sie könnten Ansprüche an ihn stellen? Aber kann nicht auch der behütetste, vom Schicksal verwöhnteste Mensch irgendeinem Erpresser in die Hände fallen? Das sagte er sich zum Trost immer wieder. Solche Geschichten gab es haufenweise in Kriminalromanen.
    Das war im September und Oktober gewesen. Ja, zum ersten Mal

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