Der Horizont: Roman (German Edition)
Wohlwollen unterstützt …«
Welchen Verbrechens oder welchen Vergehens fühlte er, Bosmans, sich schuldig? Er hatte oft den gleichen Traum: Er war Komplize einer ziemlich schweren Straftat, wie es schien; ein zweitrangiger Komplize, darum hatte man ihn noch nicht identifiziert, auf jeden Fall aber ein Komplize, ohne dass er wusste, woran er mitschuldig war. Und eine Bedrohung schwebte über ihm, die er zuweilen vergaß, doch im Traum kehrte sie wieder und sogar nach dem Erwachen, auf quälende Weise.
Welche Ratschläge und welche Hilfe erhoffte er sich von Professor Ferne und seiner Frau? Kaum hatte er in jener Nacht die Wohnung verlassen, bekam er einen Lachanfall. Er war mit Margaret im Fahrstuhl – ein Fahrstuhl mit Glastüren, der langsam hinabglitt und auf dessen Bänkchen er sich gesetzt hatte –, und er konnte sein Gelächter nicht mehr bezwingen. Er steckte Margaret damit an. Anwälte bitten, ihn zu schützen? Wovor? Vor dem Leben? Er konnte sich schlecht vorstellen, dass er Professor Ferne und der Anwältin Suzanne Ferne gegenüberstand, beide mit gravitätischen Mienen, und er, der sich in Vertraulichkeiten erging, ihnen das Schuldgefühl zu erklären versuchte, das er seit seiner Kindheit empfand, ohne zu wissen warum, und den unangenehmen Eindruck, oft über Treibsand zu gehen … Vor allem hatte er seine Seelenzustände nie irgendwem anvertraut und auch nie irgendwen um Hilfe gebeten. Nein, was ihn bei den Fernes so beeindruckt hatte, war das vollkommene Vertrauen, das sie offenbar in ihre geistigen und moralischen Fähigkeiten hatten, diese Selbstsicherheit, deren Geheimnis er gern von ihnen erfahren hätte.
In jener Nacht war das Gittertor zum Park des Observatoriums offengeblieben. Margaret und er hatten sich auf eine Bank gesetzt. Die Luft war lau. Er erinnerte sich, dass sie den ganzen Februar und einen Teil des März bei Professor Ferne und seiner Frau gearbeitet hatte. Aber wahrscheinlich war der Frühling in jenem Jahr zeitig gekommen, denn sie saßen lange auf dieser Bank. Eine Vollmondnacht. Sie hatten gesehen, wie das Licht in den Fenstern von Professor Ferne erlosch.
»Also, wann willst du sie denn um Rat bitten?« hatte sie gefragt.
Und von neuem waren sie in Gelächter ausgebrochen. Sie redeten leise, denn sie fürchteten, man könnte auf sie aufmerksam werden. So spät in der Nacht war der Zutritt zum Park sicher verboten. Margaret hatte ihm erklärt, bei ihrer Ankunft in Paris sei sie in einem Hotel unweit der Place de l’Étoile gelandet. Sie kannte niemanden. Abends schlenderte sie durch das Viertel. Da war auch ein Platz, nicht ganz so groß wie der Park des Observatoriums, eine Art Square mit einer Statue und Bäumen, und dort setzte sie sich auf eine Bank, so wie jetzt.
»Wo war das?« fragte Bosmans.
Metrostation Boissière. Was für ein Zufall … In jenem Jahr war er häufig in Boissière ausgestiegen, abends gegen sieben.
»Ich habe in der Rue de Belloy gewohnt«, sagte Margaret, »Hôtel Sévigné.«
Damals hätten sie einander treffen können in dem Viertel. Eine kleine Straße, in die Bosmans links einbog, nur ein kleines Stück vom Metroeingang entfernt. Er hatte die Buchhandlung der ehemaligen Éditions du Sablier bei Einbruch der Nacht verlassen. In Montparnasse musste er umsteigen. Danach hatte er eine direkte Verbindung bis Boissière.
Er suchte jemanden zum Abtippen dessen, was er mit seiner eng zusammengedrängten Schrift voller Streichungen in die zwei Clairefontaine-Hefte geschrieben hatte. Unter den Kleinanzeigen einer Zeitung hatte er in der Rubrik »Stellengesuche« gelesen: Ehemalige Chefsekretärin. Übernimmt maschinenschriftliche Arbeiten aller Art. Simone Cordier. 8 Rue de Belloy. 16. Arr. Bitte abends nach 19 Uhr anrufen. passy 63 04.
Warum so weit weg, am anderen Seineufer? Seit seine Mutter und der aus der Kutte Gesprungene seine Adresse herausgefunden hatten und sie wieder aufgetaucht war, um Geld zu verlangen, war er misstrauisch. Der Mann hatte in seiner Jugend ein schmales Bändchen mit Versen veröffentlicht und erfahren, dass auch Bosmans sich im Schreiben übte. Er hatte ihn eines Tages mit seinen Sarkasmen verfolgt, als sie einander unglücklicherweise auf der Straße begegnet waren. Er, Bosmans, Schriftsteller … Er hatte doch überhaupt keine Ahnung, was Literatur war … Viele sind berufen, wenige auserwählt … Seine Mutter stimmte bei, mit stolz vorgerecktem Kinn. Bosmans war durch die Rue de Seine gelaufen, um
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