Der Hort der Waechter
Hidden Moons.
»Ich . habe schlecht geträumt«, erwiderte sie, während sie sich zu ihm umdrehte.
Der Arapaho mit dem nachtschwarzen Haar lag neben ihr auf dem Lager aus Fellen, auf einen Arm gestützt und die Augen dunkel von Sorge.
»War es wieder ...?« begann er, ohne den Satz zu vollenden. Lilith wußte, daß er eine Wiederholung jenes Traumes befürchtete, aus dem er sie vor kurzem erst gerade noch hatte retten können.
»Nein«, sagte sie beruhigend, wenn auch noch immer bebend. »Es war anders. Ich war Teil ... fremder Visionen. Und ich sah Dinge, die mir vertraut schienen. Ich ... kann es nicht besser erklären.«
Hidden Moon rückte näher zu ihr und legte den Arm um sie. Wie schutzsuchend lehnte sie sich an den indianischen Vampir, dessen Sippe sich anders entwickelt hatte als alle anderen. Sie hatten in den Menschen nicht Opfer gesehen, sondern in friedlicher Symbiose mit ihnen gelebt - nehmend und gebend. Dank ihres Oberhauptes Ma-kootemane widerstanden sie sogar dem »Zorn Gottes«. Doch der Stamm hatte sich in alle Winde zerstreut, und seither war Hidden Moon Liliths Begleiter. Ein ganz besonderes Band bestand zwischen ihnen. Der Arapaho konnte ohne Lilith nicht mehr sein - im wörtlichen Sinne. War sie nicht an seiner Seite, baute sich das Böse in Hid-den Moon auf, bis er den dunklen Trieben nachgab, denen er so lange entsagt hatte .
»Irgend etwas Merkwürdiges geschieht mit dir«, meinte der Vampir. »Etwas greift nach dir, vielleicht um sich deiner zu bedienen. Du scheinst Teil eines Plans zu sein, der für uns im dunkeln liegt.«
»Möglicherweise ...«, entgegnete Lilith und erzählte ausführlicher, was in jenem Traum geschehen war.
»Du bist diesem Mann also schon zum zweiten Mal begegnet«, sagte Hidden Moon. »Vielleicht ist er der Schlüssel zu allen Geheimnissen.«
»Aber wie soll ich das herausfinden?« fragte Lilith. »Ich weiß weder seinen Namen, noch wo ich ihn suchen sollte.« Leise Verzweiflung glomm in ihren grünen Augen, als sie den Arapaho ansah.
Hidden Moon lächelte geheimnisvoll und wissend in einem.
»Es gibt nur einen Ort, an dem wir ihn suchen können.«
»Und wo wäre das?« »In deinen Träumen«, sagte Hidden Moon.
*
Salvat schlug die Augen auf und empfand, was Menschen sich unter himmlischer Ruhe vorstellen mochten. Als er sich umschaute, änderte sich sein persönlicher Eindruck. Was um ihn her war, war einzig - Totenstille ...
Er war an jenen Ort zurückgekehrt, an dem seine imaginäre Reise mit Morphea begonnen hatte: in die Kammer der Para-Träumer. Doch ihr Schreien und Stöhnen war verstummt. Auf ewig.
Salvat hatte ihnen die Träume genommen.
Und Ruhe geschenkt. Erlösung .
Es fiel ihm nicht ganz leicht, diese Interpretation des Geschehens zu akzeptieren. Ebenso hätte er nämlich gelten lassen müssen, daß er den Träumern den Tod beschert hatte, indem er ihre Visionen vernichtete.
Reglos lagen sie ringsum auf den felsigen Blöcken, und als Salvat den Blick über sie schweifen ließ, erkannte er hier und da ein Lächeln auf den starren Gesichtern, friedlich und selig. Als hätten sie nach all dem Grauen etwas Wunderschönes gesehen im Augenblick des Todes. Und vielleicht würde es ihnen bleiben. Bis in alle Ewigkeit.
»Friede sei mit euch«, flüsterte Salvat, ehe er seine Kutte überzog und auf seinen Gehstock gestützt die zur Gruft gewordene Kammer verließ. Von draußen versiegelte er die Tür auf eine Weise, daß sie nie mehr geöffnet werden konnte. Niemand sollte die wohlverdiente Ruhe dieser Toten stören, die in so kurzer Zeit mehr Schrecken gesehen und durchlitten hatten als jeder andere Mensch in seinem ganzen Leben.
Auf seinem Weg durch die Gänge und Stollen unterhalb des Klosters fand Salvat dann endlich Gelegenheit, über jene Frau nachzusin-nen, die in der Traumwelt aufgetaucht war.
Er war ihr nie wirklich begegnet. Sie war ihm nur einmal erschienen, einer Vision gleich - unmittelbar nachdem er den Todesschrei seines Sohnes gehört hatte! Wie aus dem Nichts war sie für einen einzigen Augenblick drunten vor dem Heiligtum, dem Tor, erschienen. Und im gleichen Moment hatte Salvat gespürt, daß der junge Gesandte Raphael Baldacci gestorben war. Er wußte nicht, wie, aber das Erscheinen der Fremden war ihm Zeichen genug, daß sie dafür verantwortlich war. Sie war es auch gewesen, die Raphael zu suchen ausgezogen war. Er hatte es bitter gebüßt.
Salvat hatte der Schwarzhaarigen damals den Tod geschworen, wenn er sie
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