Der Hügel des Windes
auftauchten und sich übereinanderringelten, bis sie einen Kreis formten, ein Rad, einen wirren, wimmelnden Haufen, um dann aufs Geratewohl auseinanderzugleiten und sich hierhin und dorthin zu schlängeln, unermüdlich, blitzschnell, ihre gespaltenen Zungen wie Säbel zitternd, ihr Zischen ein einziger schwirrender Chor. Es war, als hätten sich an diesem Ort alle Schlangen der umliegenden Hügel ein Stelldichein gegeben.
»Lass uns hier weggehen«, sagte Michelangelo zu seiner Schwester und schubste sie fast auf den Saumpfad in ihrem Rücken.
Ninabella rannte zur Mutter. Michelangelo ging am Garten vorbei, um die Hacke zu holen. Als er sich niederbeugte, warf er einen letzten Blick auf die Schlangen und sah, dass sie sich in die Felsspalten zurückzogen, aneinander vorbeiglitten und sich zwängten auf der Suche nach einem Ausweg – manche rutschten mit dumpfem Plumpsen in das darunterliegende Wasser – und schließlich in der Wand verschwanden, als würde eine unsichtbare Hand sie alle auf einmal wegwischen.
Anstatt ihre Kinder zu beruhigen und ihnen eine Erklärung zu geben, wies die Mutter sie mit übertriebener Härte zurecht, als trügen sie die Schuld: »Tausendmal habe ich euch gesagt, dass ihr aufpassen sollt, überall lauern hier Vipern und Gefahren, aber von wegen, ihr könnt ja nicht hören, ihr habt denselben Sturkopf wie euer Vater!«
»Aber Mama, sie waren doch auf der anderen Seite der Fiumara, nicht auf unserer, ein Riesengebrodel aus großen und kleinen Schlangen, unzählbar, alle wimmelten wie verrückt an der nackten Uferböschung ohne Pflanzen und Gras, und dann sind sie verschwunden, paff, einfach so«, erzählte ihr Sohn, während Ninabella sie verängstigt anstarrte.
Die Mutter erwiderte mit scharfer Ironie: »Klar, ein Riesengebrodel, Millionen von Schlangen vielleicht? Was denn noch, haben sie vielleicht ein Fest in der Fiumara gefeiert, wurde Wein ausgeschenkt? Haben sie eine Tarantella getanzt, beschickert wie ihr?«
»Ich schwöre dir, beim heiligen Antonius, Mà, da waren unendlich viele Schlangen und Vipern. Wir haben sie beide gesehen, oder sind wir etwa beide verrückt?«, versuchte die Tochter sie zu überzeugen.
»Schluss jetzt, helft mir lieber im Weinberg. Dort gibt es weder Schlangen noch Vipern, und sollte eine auftauchen, spalte ich ihr mit meiner Hacke eigenhändig den Kopf.«
Ninabella schmollte für den Rest des Tages mit der Mutter. Sie konnte es nicht leiden, wenn etwas, was sie mit eigenen Augen gesehen hatte, in Zweifel gezogen wurde.
Um sich Glaubwürdigkeit zu verschaffen, versuchte sie zu Hause, das Erlebte zu zeichnen. Sie füllte eine ganze Seite ihres Heftes mit über der Fiumara schwebenden Schlangen, die wie eine Myriade fliegender Aale aussahen. Dieses unfreiwillig surreale Gemälde löste bei der Mutter statt Furcht ein sarkastisches Lächeln aus und beim Großvater, der mit leerem Blick einfach durch das Schlangengeaale hindurchsah, nur Gleichgültigkeit. Die Großmutter hingegen erblickte darin ungestümes Teufelsgewürm und hier und da monströse Vögel ohne Flügel als Vorboten einer friedlosen Zukunft, so dass sie schnell ein Kreuz schlug und aus dem offenen Fenster in Richtung Meer spuckte: »Pfft, pfft, Gott rette und beschütze uns!«
Zum Glück gelang es Ninabella im Gegensatz zu ihrem Bruder schnell, sich vom Groll gegen die Erwachsenen zu befreien, doch wie er vergaß sie nicht die vermeintlichen Beleidigungen, die hässlichen Worte, und auch nicht ihre eigenen Tagträume. Sie brütete und grübelte so lange daran herum, bis sie es schließlich in Form von Zeichnungen ablegte.
In den folgenden Tagen war sie es, die den Großvater aus seiner tödlichen Stumpfheit aufrüttelte, in die er seit der Abreise seines Sohnes Arturo versunken war. Zuerst versuchte sie es mit Worten, unter den ungläubigen Blicken ihres Bruders:»Komm schon, Nonno, du hast doch gar nichts. Steh auf und geh aus dem Haus, draußen knallt die Sonne auf die Steine, es ist wärmer als hier drinnen. Du setzt dich in einen Lehnstuhl, und ich zeichne dich. Dann habe ich eine Erinnerung, wenn du tot bist.«
Der Großvater sah sie verwirrt an, als erkenne er sie nicht oder höre eine Drohung in ihren Worten. Mit Grabesstimme verkündete er: »Ich bin schon tot.«
Michelangelo runzelte besorgt die Brauen.
»Wir alle sind tot«, fügte der Alte hinzu.
Das Mädchen brach in Lachen aus: »Nonno, red doch keinen Unsinn. Tote können nicht sprechen.«
»Die Toten reden mehr
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