Der Hügel des Windes
als die Lebenden. Schluss jetzt.«
Da zwickte Ninabella ihn in den Arm, dass der Alte hochfuhr: »Autsch, bist du verrückt geworden?«, worauf sie schlagfertig antwortete: »Die Toten spüren keinen Schmerz.« Sie warf seine Decken zur Seite und bat den Bruder um Hilfe.
Zusammen zogen sie den Großvater mit endloser Geduld aus seinem Bett, halfen ihm beim Anziehen und führten ihn auf die Gasse hinaus. Dann setzten sie ihn auf einen niedrigen Stuhl, und Ninabella begann, den breitkrempigen Hut zu zeichnen, die wolligen Haare, so weiß wie der lange Bart, die tiefliegenden Augen von der Farbe trüben Wassers, die offene Weste und das bis zum Hals zugeknöpfte Leinenhemd. Sie malte schnell, saß reglos dem Großvater gegenüber, das Heft auf die Knie gelegt.
Nach den letzten Strichen bewunderte sie lange ihre Zeichnung. Dann zeigte sie sie zufrieden dem Bruder.
»Wie hässlich!«, kommentierte Michelangelo rundheraus.
Ninabella verteidigte sich angriffslustig: »Das ist nicht hässlich,das ist genau der Nonno. Er ist so, und wenn du das nicht siehst, hast du keine Augen im Kopf.«
»Der Nonno hat nicht so eine Rübennase und auch nicht diese Augen wie ein heulender Hund.«
Der Alte ergriff das Heft und hielt es sich vor das Gesicht, wie um sich darin zu spiegeln: »Jesses Gott, ich hätte nicht gedacht, dass so ein komischer Kauz aus mir geworden ist«, sagte er. »Wirklich hässlich bin ich, aber das Bild ist sehr gut gemalt, es gefällt mir ganz ordentlich. Gut gemacht, Ninabella.« Seine ersten klaren Worte seit langem.
14
Seine Gebrechen waren nicht komplett verschwunden, der Großvater stützte sich beim Gehen auf einen Stock, setzte sich vorsichtig nieder und kam nur langsam wieder hoch.
»Auf jeden Fall vermag die Liebe mehr als jede Medizin«, stellte seine Frau voll Überschwang und Dankbarkeit fest. Seit Ninabella ihn aus dem Bett gescheucht hatte, verkümmerte ihr Ehemann nicht mehr als »lebendiger Toter« zu Hause, sondern ging hinaus auf die Gasse oder ließ sich von dem Enkel zur Piazza führen. Er gesellte sich auf das Mäuerchen zu einer Gruppe betagter Bauern, die sich freuten, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen, und unverhohlen zugaben: »Wir dachten schon, du seist mehr drüben als hüben, wie deine Bergarbeiterkumpels, wie die Fliegen im Winter.« Dann schaltete er sich selbst mit überlauter Stimme ein, da sie fast alle halb taub waren. Ihre Stimmen verhedderten sich wirr, Michelangelo hatte Schwierigkeiten, ihren Reden zu folgen, und es klang, als würden sie heftig streiten.
Doch die Alten verstanden sich prächtig, ihre regen Äuglein sprangen von einem zahnlosen Mund zum anderen, die Sonne fiel schräg auf ihre munteren, runzligen Gesichter. Selten sprachen sie von vergangenen Zeiten, bemerkte der Junge, viel öfter diskutierten sie ihre Zukunftspläne, die sich meist um die Landarbeit drehten.
Der Großvater sagte, im Herbst wolle er auf dem Hang des Piloru zwei oder drei Walnussbäume pflanzen, ein paar Birnbäume,einige Reihen vom Hahnensack, einer speziellen Rebsorte, so genannt wegen ihrer länglichen Trauben, und dazu noch reichlich Nivurello-Feigen.
Willkommen unter den Lebenden, Nonno, kommentierte der Enkel bei sich. Und die anderen rieten in aller Ernsthaftigkeit von Birnen und Hahnensack ab, wer weiß, warum, und empfahlen dagegen Nektarinen, Kirschen, Maulbeeren, Granatäpfel und natürlich einen großen Weinberg mit den roten Gaglioppo-Trauben, dafür gibt es keinen besseren Boden, gesegnet von der Sonne und der frischen Meeresbrise, das wird ein sündhaft guter Wein, der älteste Wein der Welt, Compà, der weckt Tote wieder auf, wie sie in Cirò sagen, und da verstehen sie mehr vom Wein als wir. In einem waren sich alle einig: »Auf jeden Fall musst du Bäume mit kräftigen Wurzeln pflanzen, Compà, sonst spült dir ein hinterfotziger Erdrutsch dein Land ins Meer, und gute Nacht, Rossarco.«
Michelangelo ließ den Großvater in dieser etwas wirren, aber lebenslustigen Runde zurück und ging nach Hause, um zu lernen. Er hatte Prüfungen am Ende des Schuljahrs und wollte sich vor Maestro Tavella nicht blamieren, der ihn stetig lobte und als Einzigen unter seinen Schülern und einen der wenigen aus ganz Spillace für fähig hielt, auf die höhere Schule zu wechseln.
Seit der Blamage mit der Magna Graecia, die er für ein seismisches Ungeheuer gehalten hatte, passte er in der Schule besser auf, studierte zu Hause die Bücher, die der Herr Lehrer ihm lieh, vertiefte
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