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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmine Abate
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hörst du, Mà, Papa isst doch so gern Tagliatelle«, rezitierte Ninabella versiert ihre Nebenrolle, während die Großmutter mit leichtem Kopfnicken zustimmte, den Blick ihrer kleinen Augen verloren in dem vom Teller aufsteigenden Dampf, und Michelangelo nach einem kurzen »guten Appetit« zum leeren Stuhl hin zu essen begann. Niemand wagte es, Lina zu widersprechen und mit einem Machtwort der Vernunft diesem abergläubischen Treiben ein Ende zu setzen.
    Seit Arturos Verschwinden waren sechs Jahre vergangen: Im Dorf sprach man von ihm als dem letzten Opfer des Faschismus, dessen Knochen im Abgrund der Timpalea zu suchen waren, der wilden Teufels-Schlucht. Im Haus stellte die Familie sich taub und blind, um die kalte Wahrheit zu umgehen und sie durch eine herzergreifende Lüge zu ersetzen, die wenigstens noch einen Funken Hoffnung ließ.
    Am Ende musste Michelangelo des Vaters Portion essenund seinen Wein trinken, wenn nicht ein unerwarteter Gast kam, wie beispielsweise ein junger Mann, den die Organisatoren des Festes des heiligen Antonius oder der heiligen Vènnera schickten, oder ein Mitglied der Musikkapelle, die an dem Tag spielen sollte, oder etwa ein Schauspieler, der abends auf der Piazza auftreten würde. Arturo, als einem der eifrigsten Festorganisatoren, wäre es eine Freude, sagte Donna Lina und empfing die Fremden mit offenen Armen. Und dies sagte und tat sie auch, als am Ostersonntag plötzlich ein Ausländer im Hause Arcuri stand, dessen Mund sich beim Italienischreden wild verzog, als äße er eine heiße Kartoffel.
    Der Mann war über die Einladung zum Essen nicht sonderlich überrascht. Er kenne ihre Gastfreundschaft bereits, sagte er, als er sich am Tisch niederließ, aus Williams Briefen. Und in tiefer Stille, unterbrochen nur vom Klappern des Bestecks, begann er zu erzählen.
    Die Arcuris brauchten eine Weile, um sich auf die Redeweise des Ausländers einzustellen. Dann horchten sie auf, waren gerührt, die Frauen weinten. Dieser Mann war William-Minos Bruder. Und bei genauerer Betrachtung ähnelte er ihm gewaltig: groß, mit blondem, leicht rötlichem Haar und tiefblauen Augen. Nur dass er älter war als William, der in der Blüte seiner Jugend ausgelöscht worden war. An seiner Kleidung, dem eleganten Anzug mit Weste und Krawatte, lag es, dass sie die Ähnlichkeit nicht sofort erkannt hatten.
    »Ich bin gekommen, um mein Bruder von Friedhof Spillace zu holen und in Familiengrab nach London zu bringen«, sagte er, indem er die Worte sorgfältig abwog. Er nahm einen Schluck Wein und bemerkte: »Mein Bruder hatte recht, dieser Wein ist very good , der beste von die Welt.«Dann berichtete er vom Inhalt der Briefe: Williams Zuneigung für die Familie Arcuri, die Verehrung gegenüber Mister Arturo und seinem roten Hügel, von dem er wie von einem menschlichen Wesen sprach, einer warmherzigen Mutter, wunderschön und duftend, ein Paradies auf Erden.
    Der Mann, der sagte, er hieße David, aß mit Appetit und sprach dem kräftigen Wein zu, um sich Mut anzutrinken.
    Einige Sekunden lang schaute er zu Ninabella hinüber, die den Kopf über den Teller senkte. Und als er so weit war und das Blau seiner Augen dem sturmgepeitschten Meer glich, offenbarte er den zweiten Grund seiner Reise nach Spillace.
    William hatte in jedem seiner Briefe von ihr gesprochen, dem Mädchen mit dem gewellten Haar und den strahlenden Augen, die davon träumte, Malerin zu werden. Schon im zweiten Brief hatte er eröffnet, in sie verliebt zu sein, und vom vierten an wollte er sie heiraten und gemeinsam mit ihr um die Welt reisen. Nein, William hatte Ninabella nie seine Liebe gestanden. Doch er wusste, dass dieses Gefühl erwidert wurde und ihre Familie es ahnte. Deshalb wolle er vertrauensvoll warten, bis der Krieg vorbei wäre. Das schrieb er in den Briefen. Mit jenem schrecklichen Ende hatte er natürlich nicht gerechnet.
    David nahm einen langen Schluck Wein und holte tief Luft: »Ich bin hier, um in seinem Namen und dem meiner Eltern thank you zu sagen, danke euch allen, und Miss Ninabella nach London einzuladen. Sie kann in unserem Haus wohnen und auf unsere Kosten die Kunstakademie besuchen, so macht sie ihren Traum wahr. Für uns wird sie zur Familie gehören«, schloss er mit klaren, hoffnungsvollen Worten, die er wer weiß wie lange auswendig gelernt hatte.
    Wie auf Kommando ließen die Arcuris die Gabeln sinken. Ninabella wusste nicht, wohin mit ihrem Blick, sie war schamrot, ihre Brust hob und senkte sich unter der

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