Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmine Abate
Vom Netzwerk:
ein starkes Eselsseil an einen Ast des großen Olivenbaums gebunden hatte. Marisa stieß mich an, immer kräftiger, und ich tat so, als hätte ich Angst, dabei spürte ich nur vollkommenes Glück, konnte es mit der Hand berühren, immer weiter oben, ich flog über den Wipfel des Olivenbaums hinaus, war im Himmel, über der riesigen blauen Fläche des Meeres, konnte ins Wasser springen und dann wieder hoch hinaufsteigen in die Wolken.
    Von jenem Jahr an wurde der Rossarco für mich der Ort unserer fröhlichen Ostermontagsausflüge, die ich mit meinem Vater, den alten Müttern und Verwandten verbrachte und unzähligen Kindern, die spielten, mit der Schaukel durch die Luft flogen und immer wieder an der cuzzupa naschten, jenem traditionellen Hefegebäck mit dem rot gefärbten Ei in der Mitte, das Mammalì mit der Wurzelfarbe des selbstgesammelten Färberkrapp aus dem Wald von Tripepi tönte.
    Nur Marisa fehlte bei unseren Osterausflügen. Die ersten Male wollte ich mich nicht damit abfinden, beim Fliegen hielt ich stets Ausschau nach ihr, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Dann gewöhnte ich mich an ihr Fernsein wie an ein Naturgesetz: Ich hatte beobachtet, dass sie verschwand,sobald die Blüten an den Bäumen und auf den Wiesen auftauchten.
    Ja, Marisa machte es umgekehrt wie die Schwalben, sie verließ das Dorf zu Beginn des Frühlings und kehrte am Ende des Herbstes zurück. Seit ich in der Grundschule war, arbeitete sie wieder Vollzeit als Archäologin. »Statt meiner hast du ja zwei liebe Mamas, dazu eine englische Tante, die dich im Sommer besuchen kommt, und einen Vater, der immer bei dir ist«, sagte sie bei jeder Abreise mit einem Anflug von Ironie, mehr um mir die Sache zu erleichtern als um sich zu rechtfertigen.
    Mein Vater ertrug Marisas Abwesenheit mit mal zorniger, mal resignierter Ergebenheit, oft war er angespannt, in düstere Gedanken versunken, manchmal entfuhr ihm ein Schwall wüster Beschimpfungen wie »Miststück, Ignorantin, Egoistin«.
    Sonntags linderte er seine Anspannung mit einsamen Treibjagden durch den Wald von Tripepi und am Hang der Fiumara entlang. Er kehrte mit einer fedrigen Vogel-Girlande am Gürtel zurück, noch düsterer als zuvor, als bereue er sein Gemetzel. Doch wehe Mammalì oder Mammasofì wagten es, seine Frau zu kritisieren, dann verteidigte er sie mit Zähnen und Klauen: »Was erwartet ihr denn? Dass Marisa in diesem Kaff versauert? Sie hat studiert, und sie liebt ihren Beruf, schließlich ist sie nicht zum Vergnügen unterwegs, sondern um zu arbeiten.«
    Darauf die beiden: »Eine Frau muss bei ihrem Mann und ihrem Sohn bleiben, der doch noch so klein ist, unser Schätzchen, er braucht sie doch, der süße Rinuccio.«
    »Wenn Rino nicht immer am Rockzipfel der Mutter hängt, wird auch kein Mamasöhnchen aus ihm, das ist ohnehinbesser«, beendete mein Vater die Diskussion und hob die Hand zum Zeichen, dass weiterer Widerspruch unerwünscht war.
    Nach ein paar Minuten Schweigen wandte er sich an mich: »Rinù, geh dir die Hände waschen, es gibt Essen.«
    Ich gehorchte und lief dann hungrig in die Küche, wo auf dem gedeckten Tisch ein kleiner Berg gebratener Vögel wartete. Die Erwachsenen verzehrten sie genüsslich: Sie packten eins am Beinchen und verschlangen es in drei Happen, wie ich es bei Katzen und Hunden beobachtet hatte, zermalmten Fleisch und Knochen ohne Probleme. »Sie sind ganz zart, probier mal«, ermunterten sie mich reihum. Vorsichtig löste ich das Fleisch ab, spuckte alle Knöchelchen auf den Teller und dazu die eine oder andere Bleikugel, die zwischen meinen Zähnen knirschte.
    »Wirf nicht das Wertvollste weg«, riet mir mein Vater. »Ein Biss in den Kopf, dann kannst du das Gehirn aussaugen. Stell dich nicht so an, los, das schmeckt köstlich.«
    Um ihm meinen Mut zu beweisen, hätte ich auch in eine Maus gebissen. Ich lächelte, schloss die Augen und meinte anschließend, um ihn glücklich zu machen: »Wirklich sehr gut, Pà, du hast recht.«
    Nach dem Abendessen ging ich hinaus und spielte noch ein bisschen mit meinen Freunden. Er spazierte zur Piazza, nach außen hin gewappnet mit Ruhe und Gleichgültigkeit. Das war die einzige Art, dem Dorftratsch zu begegnen, der in der Abwesenheit der Torinèsia die ersten Schritte hin zur Scheidung erkennen wollte, deutliches Zeichen von Ehezwist auf allen Ebenen. »Unsinn«, sagte mein Vater. Haltlose Gehässigkeiten ohne Hand und Fuß.
    Zu jener Zeit war niemand in der Lage, das Verhalteneiner so modernen und

Weitere Kostenlose Bücher