Der Hügel des Windes
ich mich zu Hause.
Mein Vater legte eine pflichtbewusste Freundlichkeit an den Tag, doch an seinem Gesicht erkannte ich, wie fremd er hier war, obwohl er sich sehr bemühte, dies hinter Zuvorkommenheit und höflichem Lächeln vor den Schwiegereltern zu verbergen.
Marisa machte gute Miene zum bösen Spiel. Dann, auf der Rückreise nach Spillace, sagte sie: »Ich verstehe nicht, warum du uns unbedingt begleiten möchtest, wenn du danndie ganze Zeit grimmig dreinschaust. Nächstes Jahr bleibst du zu Hause bei deiner Mami und deiner Omi und bei dem Phantom deines Vaters, das ist besser für alle.«
»Das werde ich tun«, erwiderte er, »versprochen.« Doch nächstes Weihnachten vergaß er willentlich sein Versprechen und begleitete uns wieder.
Im Laufe der Jahre nahm Marisa an wichtigen Ausgrabungskampagnen in Griechenland, der Türkei, Spanien, Frankreich und fast allen Regionen Süditaliens teil. In den Sommermonaten, wenn sie bei Ausgrabungen in Kalabrien arbeitete, nahm sie mich mit.
Wir waren fast immer in unmittelbarer Nähe zum Meer. Tagsüber übergab sie mich irgendeiner Familie mit gleichaltrigen Kindern, mit denen ich am Strand spielen und baden konnte, abends aßen wir in fröhlicher Runde mit den anderen »Schürfern«, wie ich sie nannte, um uns dann in ihr Zelt zurückzuziehen.
Vor dem Einschlafen erzählte sie mir alte Mythen und Abenteuergeschichten. Das tat sie im Dunkeln, »dann kannst du dir alles besser vorstellen«, meinte sie. Ihre Stimme veränderte sich, die Worte wurden warm, luftig, farbig, die Geschichten durchdrangen die Dunkelheit und die tiefe Stille und bohrten sich in meine gespitzten Ohren. Ich liebte es, von dem alten Hund Argus zu hören, der, nachdem er seinen Herrn Odysseus erkannt hatte, sich dem ewigen Schlaf hingab, und von Äneas, der sich den greisen Vater auf die Schultern lud und viele, viele Kilometer mit ihm wanderte, um ihn nicht allein auf den vom Feind verbrannten Feldern sterben zu lassen.
Wenn ich groß war, wollte ich genauso werden wieÄneas, ich würde meinen Vater vor den Feinden und aus den Flammen retten, ihn auf meinen Schultern bis ans Ende der Welt tragen. Das dachte ich, während Marisa erzählte. Ich fühlte mich gut und stark wie Äneas, klug und listig wie Odysseus, auch ich würde meine ganze Jugend über herumreisen und dann eine Stadt gründen, um dort mit meinen Eltern zu leben, meinen alten Müttern, den Turiner Großeltern, Onkel David und Ninabella, versprach ich Marisa überzeugt.
»Und wie wirst du deine Stadt nennen?« Sie gab mir einen Gutenachtkuss. Ich schloss die Augen und sagte den ersten Namen, der mir in den Sinn kam: »Krimisa Torinese.«
Ein schwacher Lichtschein fiel durch die vom Wind bewegte Tür in das Zelt. Sie hielt mich im Arm und schlief, müde von der Arbeit des Tages, noch vor mir ein.
Eines Morgens ging ich zu Marisa, die in der prallen Sonne grub. Das tat ich sonst fast nie, und nicht etwa, weil es mir verboten war. Ich langweilte mich dabei, sie grub, und nichts passierte, kein Schatz kam zum Vorschein, nur hin und wieder ein paar Quader, die mir nichts bedeuteten. Marisa schwitzte unter ihrem Strohhut, der sie vor der Sonne schützte. Ich fragte sie: »Warum gräbst du immer? Was suchst du, Mà?«
Es war das erste Mal, dass ich sie Mama nannte. Sie wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn und sagte: »Ich suche neue Geschichten, die ich dir erzählen kann.«
Die Antwort gefiel mir, das schien mir ein triftiger Grund zu sein. Mit dem Ton eines Lehrers, der seine fleißige Schülerin lobt, sagte ich: »Gut, weiter so.«
Sie hockte auf den Knien. »Nächstes Frühjahr beginnen wir endlich mit den Ausgrabungen auf unserem Hügel. Wenndu willst, kannst du dann mithelfen«, teilte sie mir mit und grub weiter.
Ich verabschiedete mich mit einem dankbaren Kuss auf ihre Stirn und bekam im Gegenzug ein schönes frisches Lächeln der Sorte, die sich so tief in das Herz meines Vaters gegraben hatte.
33
Eine Stadt ist wie ein Mensch, sie wird geboren, wächst und stirbt, manchmal verschwindet sie und hinterlässt flüchtige Spuren, die nur das aufmerksame Auge erkennt. Eine Stadt hat eine Seele. Die verschwindet niemals. Sie steckt in jedem Stückchen Erde, im Gras, in der Luft. Sie hat die Stimme des Windes, meinte meine Mutter, und einen ganz eigenen Geruch. Wir wissen nicht genau, wo Krimisa liegt, doch seine Seele umweht diesen Hügel. Paolo Orsi hatte das als Erster wahrgenommen, konnte es aber nicht
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