Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmine Abate
Vom Netzwerk:
unabhängigen Frau zu verstehen. Doch niemand hatte den Mut, sie offen dafür zu kritisieren. Im Gegenteil, wenn Marisa nach Spillace zurückkam, wurde sie von allen freundlich und herzlich empfangen, die vielleicht sogar ein bisschen zu dick auftrugen, um glaubhaft zu sein: »Willkommen, Donna Marisa. Immer bringt Ihr Freude und Schönheit in unser Dorf.« Und meine zwei Mamas hörten sofort auf, sie verächtlich »diese Person« zu nennen, und umräucherten sie mit einem liebevollen »unsere Marisella«, welch ein Glück, endlich zurück im warmen Nest, sagten sie, wo sie mit offenen Armen empfangen werde, vor allem von dem kleinen Rino. Dann fragten sie mit derselben Liebenswürdigkeit wie die Frauen aus der Nachbarschaft, wo sie denn dieses Mal gegraben habe, was sie entdeckt habe. Und sie, die im Gegensatz zu meinem Vater selbst aufgesetzteste Schmeicheleien und gemeinste Missgunst ihr gegenüber nicht durchschaute, beschrieb mit größter Geduld, Sorgfalt und Detailversessenheit die Orte und Funde, die den anderen Frauen herzlich gleichgültig waren und von denen sie im Grunde nichts verstanden.
    Die Einzigen, die sich wirklich über ihre Rückkehr freuten, waren mein Vater und ich, und sobald wir ihr frisches Lächeln auf der Piazza aus dem Drei-Uhr-Bus erstrahlen sahen, begruben wir augenblicklich alle Kritik, allen Groll und alle Melancholie des Fernseins.
    »Herzlich willkommen, meine Liebste«, sagte mein Vater und überreichte ihr einen Strauß Oktoberrosen vom Hügel. Und ich klammerte mich, ohne ein Wort herauszubringen, vorsichtig an meine müde Schwalbe, die von der weiten Heimreise noch ganz erhitzt war.
    Mir genügten ein Tag und eine Nacht, um mich wieder an ihre Anwesenheit zu gewöhnen. Die dritte Mama war die liebevollste, sie hätschelte mich dreimal so viel, beschützte mich vor der erstickenden Liebe und dem mörderischen Essen der zwei anderen, holte die verlorene Zeit zwischen uns wieder auf.
    »Schluss jetzt mit diesen barbarischen Sitten der gebratenen Vögel«, warf sie ihrem Mann vor, der mit sardonischem Lächeln antwortete: »Von wegen barbarisch, sie sind eine Delikatesse, die muss man probiert haben.«
    Mein Vater war von der Jagd besessen wie Opa Arturo, Uropa Alberto und alle Männer unserer Sippe. Ich hingegen hatte auf sein Drängen hin nur einmal im Leben geschossen, auf einen Eichelhäher in den Zweigen eines Feigenbaumes, und mir durch den starken Rückstoß die Schulter ausgekugelt. Zum Glück war die Zielscheibe ohne Schaden davongeflogen.
    »Das ist nichts für dich«, hatte mein Vater geurteilt. »Und sag deiner Mutter bloß nicht, dass du es probiert hast, hörst du?«
    Trotz Marisas Vorwürfen jagte er die Saison über weiter. Nur dass er weder Vögel noch Fasane noch Füchse oder Hasen nach Hause brachte. Er schenkte sie seinen Jagdgefährten oder Verwandten.
    Um die Mama milde zu stimmen, verzichtete er sonntags manchmal auf die Jagd zugunsten der von ihr organisierten Ausflüge auf Paolo Orsis Spuren: »Wir leben in einer Gegend voll magischer Orte, es wäre eine Schande, sie nicht zu besichtigen.«
    Dank dieser Ausflüge erinnere ich mich noch heute voll Ergriffenheit an das Örtchen Santa Severina auf seinemTuffsporn, mit dem prächtigen Baptisterium, der Kathedrale und dem Kastell, an den Mosaik-Leoparden und die drei Schlangen mit ihren bedrohlichen schwarzen Köpfen, die sich auf dem Boden der Kirche Sant’Adriano in San Demetrio Corone ringeln, an das Kirchlein Cattolica di Stilo, ein außergewöhnliches byzantinisches Bauwerk, das ich lange mit offenem Mund anstarrte und das in mir ein eigenartiges Gefühl der Unermesslichkeit weckte, als sei ich im Himmel, während meine Eltern eifrig versuchten, ein paar Zeichen am Fuß einer Säule zu entziffern.
    »Ja, das sind magische, wunderschöne Orte«, urteilte auch mein Vater. Es war nicht leicht für ihn und seinen störrischen Stolz, der Mutter recht zu geben. Doch er versuchte es. Und an Weihnachten bewies er aus Liebe oder des lieben Friedens wegen ein Höchstmaß an Gutwilligkeit, indem er mit uns im Zug zu den Großeltern nach Turin fuhr.
    Ich für mein Teil war froh, mal zwei Wochen lang andere Luft zu schnuppern. Abgesehen von der Weihnachtsstimmung, die alles verzauberte, mochte ich Turin mit seinen breiten Straßen und herrschaftlichen alten Häusern, den glitzernden Geschäften, den schönen Cafés, wo meine Großeltern mit mir Torte essen gingen. Letztlich war es meine Geburtsstadt, und hier fühlte

Weitere Kostenlose Bücher