Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
ging. Dann grinste er. “Die haben am letzten Abend eng getanzt.”
“ Eng getanzt?”
“ Ja.”
“ Und?” Carolina schien plötzlich mit ihrer Atmung Mühe zu haben.
“ Und?”
“ Ja! Und!”
“ Und was?”
“ Na … ist sie jetzt su, su ...”, in ihrer Aufregung fand sie das deutsche Wort nicht. “... enamorada?”
“ Seine Freundin? Woher soll ich das wissen?”
“ Du bist doch sein Bruder! Sein Zwillingsbruder!”
Unser Sohn warf mir einen hilfesuchenden Blick zu – dem ich auswich. Man stelle sich nie zwischen einer nach Informationen über ihren Nachwuchs heischenden Mutter und ihr Kind.
“ Keine Ahnung”, sagte Benjamin. “Herumgeknutscht haben sie ...”
“ Geküsst!?”
Mehr als drei Elternköpfe wandten sich uns zu. Ich nahm mir ein Herz, ergriff Carolinas Oberarm und zog sie sanft Richtung Auto. Benjamin bedeutete ich, er sollte uns folgen.
“ Geküsst.” Carolina schüttelte den Kopf, während sie sich willenlos von mir fortführen ließ. “Mein Kleiner … geküsst.”
“ Ja, ja”, ich nickte. Noch wenige Meter. Ich blickte mich kurz nach Johannes um. Er hatte sich offensichtlich bereits verabschiedet und kam, breit grinsend, ebenfalls auf unseren Ford Granada zu. Ich atmete still auf. Zu früh.
“ Philip.”
Ich blickte in die Augen meiner Frau und sah Stahl.
“ Ja?” Nur nicht stehen bleiben, nur noch zehn Meter.
“ Du wirst mit den beiden reden.”
“ Reden?”
“ Reden.”
“ Über?”
“ Über alles, worüber Väter und Söhne so reden.”
“ Du meinst Bienen und Blumen?”
“ Exakt. Bienen, Blumen und ...”
“ ... und ...?”
“ Und Kondome.”
“ Sie sind erst neun.”
Sie blickte mich an. Stahl. “Und Kondome.”
Wie wir waren
Da war sie also. 1984. Die Jahreszahl, deretwegen ich beschlossen hatte, zu werden wer ich wurde. Was natürlich nicht rational war. Denn sein Leben einer Geschichte zu widmen, egal wie meisterlich sie erzählt sein mag, muss schon als einigermaßen verschroben gewertet werden. Deshalb glaube ich nach wie vor, dass es in den meisten Fällen schlicht unwahr ist, wenn jemand behauptet, er sei König von Dänemark geworden, weil er von Shakespeare so über die Maßen fasziniert gewesen sei. Vielleicht postuliert man eine solche These einfach, weil man eines Tages zurückblickt und einen Sinn, einen höheren Plan hinter all den Fehlentscheidungen sucht, die man gemeinhin „Leben“ nennt. Da bietet sich dann vielleicht der Bequemlichkeit halber eine fertig erzählte Geschichte als Drehbuch an, das man im Nachhinein nur ein wenig adaptieren muss. Vielleicht ist das so. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es bei mir anders war. Irgendetwas hatte Orwell mit seiner Geschichte in mir berührt. Irgendeinen Nerv, der von da an nicht zu ziehen aufgehört hatte. Und irgendwann gab ich nach und entschloss mich, mein Leben dem Kampf gegen 1984 zu weihen. Und am effizientesten, so dachte ich, würde ich diesen Krieg führen, indem ich so tief wie möglich ins eigene System eintauchte um es von seinem Inneren aus auf Symptome der Krankheit "Großer Bruder" zu prüfen.
Dann kam dieses 1984, und der Große Bruder, vor dem ich so viel Angst gehabt hatte, befand sich nach wie vor hinter diesem Vorhang, hatte es, wenn man ehrlich war, nicht geschafft, sich bei uns durch eine wie auch immer geartete Hintertür einzunisten. Immer noch bedrohlich, immer noch zähnefletschend lauerte er zwar im Osten, ja, das mochte schon stimmen, aber irgendwie war er doch weit weg.
Die Enttäuschung, die ich angesichts dieses eigentlich guten Ausgangs verspürte, erscheint im Nachhinein paradox. Wahrscheinlich lässt sie sich aber durchaus mit den Gefühlen dieser seltsamen Amerikaner vergleichen, die sich private Atomschutzbunker bauen, Vorräte für Jahrzehnte anlegen und Schusswaffen horten für das nukleare Armageddon. Wie sich die wohl jeden Morgen fühlen, wenn sie aufwachen, sich mit einer nach wie vor bestehenden Welt konfrontiert sehen und all den kurzsichtigen Idioten, die sich nicht die Mühe gemacht haben für den Tag danach zu planen? All diese Narren leben immer noch, noch dazu besser als sie, die Planer, weil diese all ihr Geld in neue Autos und TV-Geräte statt in 25 Kilo Trockenpfirsich gesteckt hatten!
Diese Survivalisten empfinden wohl nicht selten Wut. Wut auf die anderen, die die guten Zeiten genießen. Und das ungestraft.
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