Der Hühnerführer: Roman (German Edition)
Doch im Gegensatz zu den Bunkerbauern erkannte ich irgendwann, dass man die fetten Jahre auch zur Ernte nutzen konnte. Also begann ich, alle Systeme, mit denen ich vertraut war, für genau einen Zweck einzusetzen: Den meinen. Sollte der Kommunismus in Europa auf die eine oder andere Weise tatsächlich die Oberhand gewinnen, erschien es mir vorteilhaft, über ein gut gefülltes Bankkonto auf den Caymans zu verfügen, das meiner Familie und mir einen One-Way-Flug Richtung Karibik ermöglichen würde.
Darauf hatte ich natürlich schon lange vor 1984 hingearbeitet. Aber als dieses Jahr anbrach, wurde ich mir noch einmal meiner Wurzeln bewusst.
Dass ich sie mittlerweile lange verraten hatte, kostete mich keine Sekunde Schlaf.
1985
Es war ein gutes Leben. Vielleicht sogar ein sehr gutes. Trotzdem nagten Zweifel an mir. Neue. Zweifel darüber, dass ich meiner Frau einen vielleicht ausschlaggebenden Teil meines Lebens, meines Charakters vorenthielt. Spätestens seit dem Zwischenfall in der Oper war ich mir auch nicht mehr allzu sicher, ob mein Job für meine Familie und mich tatsächlich so ungefährlich war, wie mir Dvorschak versichert hatte. Deshalb beging ich den Fehler, den alle Glücksspieler begehen: Ich spielte auf den Jackpot. Das eine Blatt, das mich aus allem befreien würde, vor allem den konstanten Geldsorgen. Privatschule, Pelzmantel, der Zweitwagen, der brandneue Videorekorder der Urlaub auf den Malediven.
Nichts davon kam umsonst.
Auf nichts davon wollte ich verzichten.
Wir lebten so gut, dass Carolina mich immer wieder zur Seite nahm und fragte, ob wir uns das alles leisten könnten. Ich nickte jedesmal, nahm sie in die Arme und schwor ihr, dass sie keine Zweifel haben müsse, dass ich für sie und ihre, unsere Kinder sorgen würde, für immer und ewig.
Ich war ein Lügner.
Dass ich das nicht wusste, spielt keine Rolle.
Es geht nicht darum, was man glaubt, nicht darum, was man beabsichtigt.
Am Ende der Rechnung steht die Tat. Denn nur sie trägt Konsequenzen.
Am Ende meiner Rechnung stand Schuld.
Ob ich einen anderen Weg eingeschlagen hätte, wenn ich den Ausgang meiner Geschichte rechtzeitig erahnt hätte, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich es trotzdem getan- Hasardeur, der ich war. Und neben dem Hoffen auf das eine Blatt, glaubte ich auch, mein Schicksal zurechtbiegen zu können, glaubte an Kairos, diesen Gott der Gelegenheit, mit dem Schopf, den man packen musste, in der Sekunde, in der er erschien. Glaubte, dass mir das gelingen würde, dass ich nicht danebengreifen würde.
Glaubte falsch.
***
Denkt man nach großem Unglück zurück, zurück an die Zeit davor, versucht man oft den Moment zu fassen, an dem man das Desaster noch hätte abwenden können. Man macht einen Augenblick fest, ruft sich in Erinnerung, welche Entscheidung man gefällt hat und stellt sich vor, man trifft die diametral entgegengesetzte. Dann liegt man, oft irgendwann um zwei oder drei Uhr in der Früh, auf dem Rücken, starrt an die graue Decke und lebt das Leben, das andere, das sich von da an ergeben hätte, das so wunderbar, das so perfekt ist.
Nicht nur, dass diese Übung keinen Sinn hat und das erfahrene Unglück auch noch verstärkt. Sie ist außerdem eine Lüge. Eine der dümmsten und eine der dreistesten, weil eine vor sich selbst.
Wäre man in diesen dunkelsten Stunden des Tages, der Nacht, ehrlich zu sich selbst, würde man sich eingestehen, dass man sein Leben, wenn nicht an jener, dann eben an einer anderen Stelle zerstört hätte.
Vielleicht sogar an einer früheren.
Doch daran wagt man nicht zu denken. Denn das würde bedeuten, dass man in Wirklichkeit noch Glück gehabt hat. Das ganze Schlamassel hätte viel früher eintreten und einen viel größeren Teil dieses einen kurzen unwiederbringlichen Lebens zerstören können. Doch der Mensch ist in seinem Wesen immer derselbe. Und wenn dieser Mensch eine fatale Entscheidung in seiner DNS trägt, wird er diese auch irgendwann einmal treffen wird diesen einen Fehler begehen, der im besten Fall sein Leben zerstört, im schlimmsten Fall auch das derer, die er liebt.
Menschen, in deren Charakter ein solcher Defekt steckt, leben auf geborgte Zeit.
***
“Das reicht nicht.”
Ich sah Fleischer fest in die Augen. Natürlich reichte es. Das wussten wir beide. Das Kuvert, das zwischen uns auf dem Tisch lag, war zum Bersten mit 1000
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