Der Hueter der Koenigin - Historischer Roman
Erinnerungen und Empfindungen durch seinen Kopf. Jetzt erst gestand er sich ein, wie sehr er unter dem Verlust seines Sohns gelitten hatte - jeden Tag, zu jeder Stunde.
„O Gott!“, stöhnte er auf. „Weißt du, was es für mich bedeutet, seinen Namen zu hören? Hier, von einem Fremden?“
Leudemund schwieg, einen Anflug von Besorgnis in der Miene.
Die zwei an der Tür schienen ungeduldig zu werden, immer häufiger und offener schaute der eine zu ihnen herüber.
„Komm, es wird Zeit!“, drängte Leudemund sacht und machte Anstalten, sich zu erheben.
Wittiges blieb sitzen. „Nein, erzähl mir erst von dem Jungen. Wie geht es ihm? Wo ist er? Ich bin ...“ Er stockte gerade noch rechtzeitig. Sag nicht, du bist sein Vater, mahnte er sich mit einem Rest von Vorsicht. „... ihm voriges Jahr begegnet, ihm und den beiden anderen. Sie haben Eindruck auf mich gemacht.“
Im Gesicht des anderen zuckte es, jetzt verschattete es sich. Leudemund stützte den Kopf in beide Hände und wagte nicht mehr, ihn anzuschauen.
Eine tödliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Unheilschwanger, lähmend. Mit der Eiseskälte, die ihm nun in die Brust kroch, erkannte Wittiges die grausame Wahrheit. „Er ist tot, nicht wahr?“
Die Stirn gerunzelt, legte Leudemund die Hände flach auf die Tischplatte und spreizte die Finger, während ein Augenlid nervös zuckte.
„Ja.“
Wittiges hätte alles darum gegeben, hinter diese Stirn zu blicken, erkannte aber nur Trauer, Bedauern und ... vielleicht so etwas wie Schuldgefühl in der Miene des Mannes.
„Es war eine Seuche“, fuhr Leudemund flüsternd fort. „Das Kind starb zuerst. Sein Onkel Alexander folgte ihm. Der Junge hat tagelang Widerstand gegen die Krankheit geleistet, ist ihr dann aber doch erlegen. Woher kanntest du ihn?“
Wittiges dachte nach, soweit es die Dumpfheit zuließ, die sich nun in seinem Schädel aufbreitete. Also hatte er richtig vermutet: Alexander und Cniva hatten hinter der Entführung gesteckt. Sie waren dafür verantwortlich gewesen, sie vor allem. Zwei Männer, denen er aus ganzem Herzen vertraut hatte. Der eine sein Freund, der andere nicht nur ein Freund, sondern auch sein Schwager.
Wittiges schwankte auf seinem Sitz, ihm wurde heiß, kalt und schwindlig. Ungelenk erhob er sich und beugte sich über den Tisch. „Sagst du mir auch die Wahrheit?“ Es war sein letzter Versuch, die Wahrheit nicht zu akzeptieren.
„Warum sollte ich dich belügen?“ Leudemund schaute gefasst und doch deutlich betroffen zu ihm auf. „Du hast ja keine Ahnung, wie viel Hoffnung sich mit diesem Kind verband. Sein Tod hat alle unsere Pläne zunichte gemacht.“ Er hielt einen Moment inne. „Nun weißt du Bescheid.“
„Nichts weiß ich“, entgegnete Wittiges schroff. „Nichts über ...“
„Wenn du mehr wissen willst, sollten wir gehen. Ich will hier nicht länger bleiben. Wir sind schon viel zu lange da. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass wir vorsichtig sein müssen.“
Das Gasthaus war nicht sehr gut besucht, jeder der Gäste musterte und beäugte alle anderen. An einen Mann mit einer auffälligen Narbe an der Stirn würde man sich erinnern.
Wittiges strich sich die Haare aus dem Gesicht und merkte, dass er seine Trauer nicht mehr unterdrücken konnte. „Gleich. Entschuldige mich kurz.“ Er stolperte auf eine kleine Tür im Hintergrund zu, die auf den Hof und den Abort hinausgehen musste. Niemand hielt ihn auf. Er stieß die Tür auf, trat in den Hof hinaus, stöhnte laut auf und hämmerte in sinnloser Wut mit den Fäusten gegen die nächste Wand, bis sie taub wurden.
Da war sie, die Gewissheit, die er so gefürchtet hatte. Was konnte ihm Leudemund jetzt noch mitteilen? Nur die eine Nachricht zählte, was scherte ihn der Rest. Andererseits ... Er musste um Alethas willen alles in Erfahrung bringen, was er noch nicht wusste. Wie war es Felix bei Leudemund und seinen Verbündeten ergangen? War er friedlich gestorben? Wo lag er begraben?
Ein Mann trat in den Hof hinaus, warf ihm einen neugierigen Blick zu und verschwand in Richtung des Aborts, dessen Lage sich durch den Gestank verriet, der von dort herüberwehte.
Wittiges taumelte in die Gaststube zurück, warf für Wein und Mahlzeit eine Münze auf den Tisch, obwohl er eingeladen war, und tappte zur Tür, sicher, dass ihm Leudemund folgen würde. Die beiden Männer am Eingang ließen ihm den Vortritt. „Und wohin?“, murmelte er im Vorübergehen.
„Das wirst du schon sehen“, murmelte
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